Orphan Drugs – Zulassung auf (zu) dünner Datenbasis?
Pro: Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
Ziel der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden war es, durch Anreize – zum Beispiel beschleunigte Zulassungsverfahren, ermäßigte Bearbeitungsgebühren, zehnjähriges Marktexklusivitätsrecht – pharmazeutische Unternehmer zu motivieren, verstärkt entsprechende Arzneimittel (Orphan Drugs) zu entwickeln. Ähnliche Regelungen existieren in den USA bereits seit 1983 und in Japan seit 1993. Diese Anreize führten zu einem Gesinnungswandel bei den pharmazeutischen Unternehmern, und die früher meist verfolgte Devise „Entwicklung von Orphan Drugs ist wegen des zu erwartenden großen Forschungsaufwands und der geringen Nachfrage viel zu teuer“ wurde verlassen. In den USA sind inzwischen mehr als 400 und in Europa etwa 100 Orphan Drugs zugelassen worden. Aktuelle Analysen verdeutlichen, dass diese von den Unternehmern heute als neues, sehr lukratives Geschäftsfeld erkannt wurden – mit stabilem Umsatzwachstum, Wachstumsraten von etwa 7,5% und einem globalen Umsatz von mehr als 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr sowie einem Anteil von etwa 15% am weltweiten Umsatz von Arzneimitteln. Dies ist jedoch weniger auf die Entwicklung von Orphan Drugs für Patienten mit sehr seltenen angeborenen Erkrankungen zurückzuführen als vielmehr auf eine „Orphanisierung“ sogenannter Volkskrankheiten im Rahmen der individualisierten Arzneimitteltherapie. Vor allem bei Krebserkrankungen gelingt es den pharmazeutischen Unternehmern zunehmend, kleine Untergruppen bei relativ häufigen Tumoren anhand von Biomarkern zu unterscheiden.
Nicht erreicht wurde aber ein anderes wichtiges Ziel der Verordnung: „Patienten mit solchen Leiden haben denselben Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln wie andere Patienten.“ Orphan Drugs werden in Zulassungsstudien, etwa bei onkologischen und neurologischen Erkrankungen, weniger gründlich geprüft als andere Arzneimittel. Dies liegt unter anderem an der kleinen Zahl von untersuchten Patienten, dem nicht-randomisierten Design der Studien mit meist Surrogatparametern als Endpunkten und kurzer Nachbeobachtung. Seit Jahren wird deshalb zu Recht gefordert, die Anforderungen an die Zulassung von Orphan Drugs zu erhöhen, und auch wissenschaftliche Erkenntnisse zu patientenrelevanten Endpunkten zu verlangen, ebenso wie Vergleichsstudien mit therapeutischen Alternativen, die bei Orphan Drugs nicht selten zur Verfügung stehen.
Kontra: Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer F&E und Innovation, Verband forschender Arzneimittelhersteller
Medikamente mit Orphan-Status – Orphan Drugs – dienen stets der Behandlung schwerer Krankheiten. Andernfalls würde die europäische Kommission den Status auch gar nicht vergeben. Das Anforderungsraster für ihre Zulassung ist grundsätzlich nicht anders als das für andere Mittel: ihre Wirksamkeit, Verträglichkeit und technische Qualität müssen belegt sein, der Nutzen der Anwendung muss das Risiko übersteigen; und zusätzlich muss ein Orphan-Medikament sogar einen größeren Nutzen zeigen als eine gegebenenfalls vorhandene Vergleichstherapie.
Die Anforderungen müssen dabei allerdings an das Machbare angepasst werden, denn bei den Orphan-Krankheiten ist die Zahl der Patienten, die an klinischen Studien mitwirken können, naturgemäß klein. Zudem liegen bei vielen Erkrankungen nur begrenzte Erkenntnisse über den Krankheitslauf ohne gezielte Behandlung – die sogenannte natural history – vor. Viele der betroffenen Patienten warten aber dringlichst auf Behandlungsmöglichkeiten.
Die Europäische Arzneimittelagentur EMA und die Europäische Kommission gehen mit diesem Dilemma verantwortungsvoll um, indem sie ein Orphan Drug auch zulassen, wenn weniger Patienten als gewöhnlich an der Erprobung mitgewirkt haben (mitunter bereits nach Phase II); dabei verpflichten sie die Hersteller aber, anschließend weitere Wirksamkeits- und Sicherheitsdaten über die Anwendung der betreffenden Medikamente zu sammeln – zum Beispiel über zusätzliche Studien oder Register, in die die behandelnden Ärzte Therapieverlauf und -ergebnis für jeden ihrer Patienten einbringen. Anonymisierte Auswertungen daraus werden den Behörden übermittelt, und auf dieser Basis kann die Anwendung der betreffenden Mittel nach und nach noch sicherer gemacht werden.
Die medizinische Erfahrung gibt dieser Praxis recht: Orphan Drugs stehen insgesamt nicht in dem Ruf, nach der Zulassung mangelnde Wirksamkeit oder inakzeptable Nebenwirkungen zu offenbaren.
Für die meisten Patienten mit einer seltenen Krankheit besteht das größte Gesundheitsrisiko einfach darin, gar keine Behandlung zu erhalten. Bei einem neuen Medikament mit der Zulassung zu warten, bis alle Ungewissheiten auf das Niveau von Medikamenten für Volkskrankheiten minimiert sind, ist den Patienten nicht zu vermitteln und ist faktisch nicht machbar.