Schampus für alle!
Es tut mir leid, liebe Leser, aber die olle Titanic muss als Allegorie mal wieder herhalten. Als das als unsinkbar geltende Schiff den Eisberg rammte, war sein Schicksal binnen Sekunden besiegelt. Doch es dauerte eine Weile, bis die an Bord befindlichen Ingenieure ausgerechnet hatten, dass die Schotten überflutet werden und das Schiff sinken würde. Dann mussten die Offiziere und der Kapitän erst davon überzeugt werden, wie ernst die Lage ist, damit Notrufe abgesetzt werden konnten. Währenddessen ging die Party in den Ballsälen munter weiter. Ob es Gratis-Schampus gab, um die Stimmung nicht zu vermiesen? Unsere aktuelle wirtschaftspolitische Lage erinnert mich an diese Situation: Die Wissenschaftler haben inzwischen zweifelsfrei ausgerechnet, dass die Klimaerwärmung unsere Biosphäre akut bedroht. Die „Offiziere“ und „Kapitäne“ reden inzwischen offen darüber, zum Beispiel in Davos. Die Regierenden halten aber keine „Blut, Schweiß und Tränen“-Reden, sondern verteilen Gratis-Sekt: Hier die Erhöhung der Pendlerpauschale, dort ein Milliardchen für Jungbauern, denen der Umweltschutz stinkt. Marktwirtschaftliche Wege? Ooch nö, lieber nicht. Kohleausstieg? 2038, da sind wir längt nicht mehr im Amt. Prost, Schampus für alle!
Die Kapitalmärkte sind kaum besser: Wie kann es sein, dass Saudi Aramco Ende vergangenen Jahres mit seinem Börsengang zum wertvollsten Unternehmen der Welt wurde, obwohl jeder weiß, dass die Förderung all des schönen Öls im Wüstenboden zum Untergang der menschlichen Zivilisation führen würde? Oder dass Blackrock-Chef Larry Fink von den CEOs weltweit Klimaschutz als zwingendes Investitionskriterium einfordert, seine Firma aber laut shareaction.org bei nur 7% der entsprechenden Unternehmensabstimmungen für die nachhaltige Lösung votiert?
Dabei klingen die Anrufe aus dem Maschinenraum zunehmend bedrohlich: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ging die industrielle Produktion in Deutschland im Dezember um 2,9% zurück. Die Exporte stagnierten über das Jahr 2019 gesehen. Alles nur Kurzfristeffekte? Kleiner Eisberg oder ein großer? Die Abhängigkeit Deutschlands von nur zwei Sektoren ist gefährlich: Autos und Chemie, beide basierend auf fossilen Energieträgern. Glaubt irgendjemand, dass bald 10 Milliarden Menschen ständig in tonnenschweren Blechbüchsen herumfahren können, so wie wir (noch)? Unser Verkehrsminister Andreas Scheuer offenbar schon. Er wies eine Interviewfrage nach dem Auto als Auslaufmodell entrüstet zurück und verwies auf den Ast, auf dem man sitzend nicht sägen soll. Schon mal etwas von Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ gehört? Kollege Altmaier schreibt derweil Briefe nach Brüssel und fordert, die Autobranche von ambitionierteren Klimazielen auszunehmen. Das Schiff sinkt ja noch nicht.
Und wo bleibt das Positive? Da sind die großen Chancen, die der gewaltige Erkenntnisgewinn in der Biotechnologie der vergangenen Jahrzehnte bietet. Doch was ist nun mit der Biologisierung der Industrie? Sie gelingt vereinzelt, doch sie ist kaum zu sehen. In Jahrzehnten der Globalisierung ist den meisten großen Unternehmen hierzulande generell die Fähigkeit abhanden gekommen, Produkte und Dienstleistungen für den Endverbraucher zu entwickeln – neue Weltmarken entstehen längst woanders. Die Unsichtbarkeit als bloßer Zulieferer lässt Politik und Kapitalmärkte über die industrielle Biotechnologie hinwegsehen. Da bleibt noch viel zu tun, denn anders als die Titanic müssten wir eigentlich gar nicht untergehen.
Erschienen in |transkript 1-2020