Von Illusionen und Illusionisten
In Zeiten von Koalitionsverhandlungen ein Editorial mit einer Halbwertszeit von mehr als einer Woche zu schreiben, ist ein ziemliches Risiko. Trotzdem versuche ich es, liebe Leser. Denn ich befürchte, dass sich die meisten Menschen hierzulande einer Illusion hingeben. Sie glauben nämlich, dass die immensen Herausforderungen durch die Klimakatastrophe so gestemmt werden können, dass sie ihren gewohnten Lebensstil beibehalten können. Das wird nicht so kommen, dafür ist unser ökologischer Fußabdruck in den Industrieländern einfach zu groß. Wir brauchen Qualität statt Quantität, in allen Lebensbereichen. Doch hielt irgendein Politiker im Wahlkampf eine „Blut-, Schweiß und Tränen-Rede“ wie weiland Winston Churchill zu Beginn des Zweiten Weltkrieges? Im Gegenteil: Sobald ein Preis im Zusammenhang mit CO2 ansteigt, stimmt der Chor der Illusionisten das immer gleiche Lied an: Der Staat muss die Mehrkosten der Bürger ausgleichen! So wird das aber nichts. Ganz im Gegenteil müssen wir endlich zu einer Kostenwahrheit kommen, zum Beispiel im bizarr quersubventionierten Verkehrssektor. Wir müssen die Soziale Marktwirtschaft wirken lassen – was selbstverständlich einschließt, dass den wirklich Bedürftigen geholfen wird. Ob die neue Regierung Deutschlands das hinbekommt? Die Hoffnung stirbt zuletzt.
In der Wirtschaft gelten andere Spielregeln als in der Politik. Zwar sollte Letztere der Ersteren möglichst kluge Rahmenbedingungen setzen, doch das Kapital und die Unternehmer haben auch noch ein Wörtchen mitzureden. Deshalb ist die Debatte um die ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) so wichtig. ESG soll nicht nur Klarheit verschaffen, sondern auch die Kapitalströme in Richtung Nachhaltigkeit lenken. Soweit eine gute Sache: Wir müssen unsere Wirtschaft tatsächlich radikal umbauen, und zwar vor allem weg von Geschäftsmodellen, die die Natur ausbeuten oder gegen sie arbeiten, und hin zu Wirtschaftsformen, die den natürlichen Gegebenheiten unseres Planeten entsprechen. Dass ausgerechnet die Biotechnologie im Interessengerangel dabei unterzugehen droht, beleuchtet |transkript-Redakteur Georg Kääb in seiner Titelgeschichte auf Seite 12 ff. in dieser Ausgabe.
Völlig verrückt wird die ESG-Diskussion im Stromsektor. Während Deutschland unter einer Autofixierung leidet, ist es in Frankreich eine Atomkraftfixierung. Der französische Präsident Macron kämpft wie ein Löwe dafür, dass Atomenergie als „nachhaltig“ eingestuft wird, weil sie wenig CO2 emittiert. Auch in Teilen der deutschen Presse wird täglich getrommelt, dass man das beschlossene Abschalten der AKWs aus Klimaschutzgründen bleibenlassen sollte. Macron wirbt für Tausende von Mini-AKWs im Land, die eines Tages mit hochangereichertem Uran eine dezentrale Stromversorgung sicherstellen sollen – der Traum eines jeden Nuklear-Terroristen! Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Argumentation aus Jugendtagen noch mal hervorkramen muss: Wir können die tödliche Gefahr durch Strahlen mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen. Das hat einen evolutionären Grund: Das Leben konnte sich auf der Erde nur aufgrund der weitgehenden Abwesenheit ionisierender Strahlen entwickeln. Jetzt damit herumzuhantieren, nur damit wir unseren verschwenderischen Lebensstil aufrechterhalten können, geht gar nicht. Strahlender und giftiger Atommüll muss für eine Million Jahre teuer der Biosphäre entzogen werden. Das soll nachhaltig sein? Da lacht ja selbst der gallische Hahn!