Merck & Co. sichern sich neuartige Krebstherapie
Kann ein Rezeptor, der in fast allen Zellen des Körpers vorkommt, ein geeignetes Ziel für eine Krebstherapie sein? Der US-Konzern Merck & Co. Inc. – in Deutschland als Merck, Sharp & Dohme (MSD) unterwegs – ist fest davon überzeugt. Über eine Tochterfirma zahlt er vorab 115 Mio. Euro in bar an die Anteilseigner der Rigontec GmbH, um die deutsche Firma komplett zu übernehmen.
Rigontec hat sich dem intrazellulären Rezeptor RIG-I verschrieben, der aus gutem Grund in fast allen Körperzellen exprimiert ist: Er dient als Alarmsystem für eine Virusinfektion. Wird RIG-I aktiviert, wird lokal eine Interferon-Antwort ausgelöst. Normalerweise setzt sich sofort ein Rückkopplungsmechanismus in Gang, der diese Reaktion moduliert. Jene Mechanismen sind aber in der Tumormikroumgebung gestört. Die Folge: Eine RIG-I-Aktivierung führt zum Tod der Krebszellen. Aufbauend auf dieser Idee wurde Rigontecs Wirkstoffkandidat RGT100 entwickelt. Derzeit ist das synthetische RNA-Oligonukleotid der einzige RIG-I-Agonist, der als Krebsmittel klinisch untersucht wird. In den USA steckt Konkurrent Kineta Immuno-Oncology LLC mit seinem niedermolekularen Wirkstoffkandidaten noch in der Präklinik.
Ideale Verhandlungsposition
„Als ich 2015 zu Rigontec kam, war ich direkt davon überzeugt, dass sie eine völlig neuartige und weltweit einzigartige Technologie haben“, erinnert sich Christian Schetter, Geschäftsführer von Rigontec. „Dass sich die Möglichkeit zu einem lukrativen Verkauf dieser Technologie so schnell ergeben hat, war natürlich nicht absehbar.“ Schetter betont, dass er für die Zukunft von Rigontec immer möglichst viele strategische Optionen offengehalten hat. Dank einer soliden Finanzierungssituation war die Verhandlungsposition in den Gesprächen mit Merck & Co. ideal. Nach mehreren Closings standen nach Abschluss der Serie A-Finanzierung Ende 2016 stolze 29,25 Mio. Euro unter dem Strich. Die Investorenriege darf mit Fug und Recht als illuster bezeichnet werden: Der Boehringer Ingelheim Venture Fund, Forbion Capital Partners, der High-Tech Gründerfonds (HTGF), die NRW Bank, das MP Healthcare Venture Management, Sunstone Capital und Wellington Partners vertrauten in Rigontecs Idee – und werden nun reichlich belohnt. Neben der Vorabzahlung in Höhe von 115 Mio. Euro wurde zusätzlich eine Zahlung von weiteren 349 Mio. Euro an die Anteilshaber vereinbart, wenn Merck & Co. mit Rigontecs Kandidaten bestimmte klinische und kommerzielle Meilensteine erreichen.
Erfolg für Wissenschaftsstandort Deutschland
Obwohl Rigontec seit wenigen Monaten seinen Sitz in Martinsried hat, spielt der Großteil der Erfolgsgeschichte einige hundert Kilometer weiter nördlich. Die Idee, eine RIG-I-Aktivierung therapeutisch zu nutzen, entstammt dem Institut für Klinische Chemie und Pharmakologie des Universitätsklinikums Bonn.
Unter der Leitung von Institutsdirektor Gunther Hartmann war es den Bonner Wissenschaftlern nicht nur gelungen, die Spezifika der Bindung der viralen RNA an RIG-I zu bestimmen. Sie entwickelten auch spezielle immunstimulatorische RNA-Moleküle, die an RIG-I binden und somit eine Virusinfektion nachahmen. Die Forscher mussten hierfür das Problem lösen, dass echte virale RNA eine Vielzahl verschiedener Reaktionen anstößt. Die daraus resultierende proinflammatorische Antwort ist für eine Krebstherapie hinderlich. Perfekte RIG-I-Agonisten aktivieren einzig und allein diesen Rezeptor. Und genau solche Moleküle haben die Bonner entwickelt und an das Start-up Rigontec auslizenziert. „Wir verfügen über eine Plattform, die unterschiedliche RNA-Moleküle mit verschiedenen Modifikationen liefert. Die RIG-I-Aktivierung ist dabei insbesondere von der Molekülstruktur und nicht von der Nukleotidsequenz abhängig“, erläutert Schetter. Nach der Unternehmensgründung konzentrierte sich das Rigontec-Team zunächst auf den Leitkandidaten RGT100. Laut Schetter wurden die Planungen zügig auf die Zielstruktur RIG-I und dieses Molekül ausgerichtet: „Wir haben uns sehr stark darauf konzentriert, unseren Leitkandidaten voranzubringen. Dafür haben wir unglaublich viel Arbeit auch in Herstellung, Formulierung und Skalierung unter GMP-Bedingungen gesteckt. Das alles wollten wir so schnell wie möglich unter Kontrolle haben, um ein fertiges Produkt griffbereit zu haben.“ Schetter ist es dabei gelungen, das Projekt mit einem kleinen Team von unter zehn Angestellten reifen zu lassen. Je nach Aufgabenstellung wurde natürlich auch auf Expertise von außerhalb zurückgegriffen.
Derzeit muss RGT100 die Feuertaufe bestehen: Seit Anfang des Jahres läuft eine Phase I/II-Studie mit dem Kandidaten an sechs Studienzentren in Deutschland, Spanien und Großbritannien, bei der RGT100 entweder in einen unter der Haut liegenden Tumor oder in Lebertumore injiziert wird. Stufe 3 von 4 der Dosiseskalation ist erreicht und die Studie verläuft nach Plan. Das Endergebnis wird aber erst 2019 vorliegen.
Das Potential der RIG-I-Aktivierung geht deutlich über die Onkologie hinaus. Laut Rigontec sind die Schutzrechte sehr breit abgesteckt. Andere, strukturell von RGT100 abweichende Agonisten könnten bei Virusinfektionen oder Autoimmunerkrankungen hilfreich werden. Die US-Firma Spring Bank Pharmaceuticals hat zum Beispiel einen RIG-I-Aktivator als Mittel gegen Hepatitis B-Viren in der Pipeline. „Immer wenn das Immunsystem auf eine verträgliche Art und Weise auf eine TH1-Antwort umgestellt werden soll, kommt eine RIG-I-Aktivierung prinzipiell in Frage“, so das Fazit des Rigontec-Chefs.
Die Hoffnungen von Merck & Co. beruhen klar auf der Antikrebswirkung. Bis dato hat der US-Konzern noch keine Angaben gemacht, welchen Platz RGT100 im firmeninternen Immunonkologika-Setzkasten einnehmen wird. Ins Auge springt natürlich eine mögliche Kombinationstherapie mit dem Immuncheckpoint-Inhibitor Pembrolizumab (Keytruda). „Wenn mit solchen Inhibitoren die Bremsen des Immunsystems gelöst werden, dann ist es natürlich günstig, wenn das aktivierte Immunsystem möglichst alle Tumore erkennt – und genau das kann man mit RGT100 erreichen“, so Schetter. „Unsere Technologie ist ein Schlüssel dafür, für das Immunsystem unsichtbare Tumore wieder sichtbar zu machen.“ Sie sei daher wunderbar mit anderen Therapieansätzen kombinierbar – und zwar sowohl sequentiell als auch parallel.
„Relevante Fortschritte für Patienten“
Kombinationsstudien mit Immuncheckpoint-Inhibitoren sind so beliebt wie nie zuvor. Laut EP Vantage laufen derzeit 765 davon – die meisten unter Beteiligung von Pembrolizumab. Einem Zitat von Merck & Co.-Manager Eric Rubin zufolge wird Rigontecs Ansatz einen hohen Stellenwert unter Mercks derzeit mehr als 550 weltweit laufenden klinischen Studien im Bereich der Immunonkologie erhalten: „Wir sind sehr daran interessiert, auf Rigontecs Forschungsergebnissen aufzubauen, um unserem Ziel, relevante Fortschritte für Krebspatienten zu erzielen, näherzukommen.“ Angst, dass das Projekt komplett in der Versenkung verschwindet, hat Schetter keine: „Dafür hat Merck & Co. zu viel Interesse an neuen Technologien in der Immunonkologie und zu viel Geld investiert.“
(Text erschienen in |transkript 10/2017)