"Zu kurz gesprungen" – Christian Tidona zur Standortpolitik in Mainz
Christian Tidona ist einer der Antreiber des größten deutschen Biotech-Clusters in Heidelberg und zugleich mit der Mainzer Entwicklung und ihren Akteuren vertraut. Kennern der Szene ist er als jemand bekannt, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Der Aufschwung, den Heidelberg gerade in den vergangenen Jahren als vibrierendes Ökosystem für die Translation der klinischen Forschung genommen hat, ist sehr eng verknüpft mit seinen Aktivitäten in früheren Zeiten bei BioRN und heute bei BioMed X.
Transkript.de dokumentiert den ersten Teil des Interviews mit freundlicher Genehmigung von VRM/Allgemeine Zeitung und empfiehlt das Weiterlesen auf den Seiten der Mainzer Allgemeinen. Die Fragen stellte Friedrich Roeingh.
Herr Tidona, der Biotech-Hub in Heidelberg, das Rhein-Neckar-Cluster BioRN, ist neben München das größte in Deutschland. Wie sehen Sie die Wachstumsperspektiven für Biotechnologie in Deutschland?
Tidona: Ziemlich gut. Der weltweit beachtete Erfolg von Biontech hilft dabei. Und in Heidelberg konnten wir gerade mit den amerikanischen BioLabs und der Evotec Bridge mehrere spektakuläre Ansiedlungserfolge verzeichnen. Wir haben einen Masterplan entwickelt, nach dem wir hier auf dem großen Life-Science-Campus im Neuenheimer Feld die Geschossflächen in den kommenden 30 Jahren noch einmal verdoppeln möchten.
In diesem Konzert möchte in Zukunft auch Mainz mitspielen – aufbauend auf dem Erfolg von Biontech. Eine gute Idee?
Tidona: Ja natürlich muss man dieses Momentum unbedingt nutzen.
Wie nehmen Sie die Mainzer Pläne aus Heidelberger Sicht wahr? Ambitioniert, überambitioniert?
Tidona: Als zu kurz gesprungen. Mainz sieht angesichts des Erfolgs von Biontech nach meinem Eindruck nicht, dass man erstmal ganz hart an den Voraussetzungen arbeiten muss, die einen zu einem Standort mit internationaler Strahlkraft machen. Ich nenne nur einen zentralen Punkt: Um mit einem Biotech-Cluster Toptalente etwa von der Stanford-Universität oder Harvard nach Mainz zu holen, muss man das Ziel verfolgen, auf die weltweite Top-50-Liste im Bereich Medizin und Life Science zu kommen. Die Universität Heidelberg liegt dort heute auf Rang 34, die Mainzer Universität auf Platz 272.
Was halten Sie dann davon, wenn Stadt und Landesregierung angesichts des Erfolgs von Biontech mit Vokabeln wie der von der „Apotheke der Welt“ unterwegs sind?
Tidona (lacht): Deutschland war einmal die Apotheke der Welt. Den Begriff sollte man besser nicht aufleben lassen. Im Bereich der Biotechnologie, wo uns die USA weit, weit voraus sind, schon gar nicht. Das schmälert nicht den unglaublichen Erfolg von Biontech. Wenn es aber nicht gelingen sollte, das Umfeld von Biontech in ein biotechnologisches Cluster mit weltweiter Strahlkraft weiterzuentwickeln, kann sich so ein Börsenunternehmen ganz schnell in Richtung anderer Forschungsstandorte orientieren. Wenn ich mal ein Bild wählen darf: Ich würde Biontech mit einem Steinway-Konzertflügel vergleichen. Dann haben Sie in Mainz mit dem TRON noch eine Stradivari und an der Universität noch das ein oder andere Blasinstrument. Der Steinway braucht aber ein ganzes Orchester.
Welche Bausteine braucht es, um ein Biotech-Cluster aufzubauen?
Tidona: Auf der einen Seite benötigt man international herausragende akademische Forschung – also eine Universität, die in Life Science und Medizin mindestens in der Top 50 steht. Auf der anderen Seite eine vielfältige unternehmerische Basis aus Start-ups, mittleren und großen Unternehmen, die eng mit der akademischen Forschung kooperieren. Und dazwischen – das ist fast der wichtigste Baustein – verschiedene Instrumente der Translation, also zum Beispiel Inkubatoren und einen professionellen Technologietransfer, die eine Umsetzung der Forschungsergebnisse in wirtschaftliche Wertschöpfung aktiv unterstützen.
Mainz hat aber doch drei gute Voraussetzungen: über eine Milliarde Gewerbesteuer von Biontech, ein bereits erschlossenes Gelände in der Nähe zur Uni und zur Uniklinik und ein Erweiterungsgelände über 50 Hektar. Wird das nicht ein Selbstläufer?
Tidona: Einen ambitionierten Masterplan zu entwickeln und mit aller Konsequenz voranzutreiben, ist das genaue Gegenteil von einem Selbstläufer. Wenn ich hier in Heidelberg mal zurückblicken darf: Das Neuenheimer Feld geht mit seinen 170 Hektar auf eine strategische Planung in den 80er-Jahren zurück. Damals hat man erkannt: Das Thema Life Science wird einmal richtig groß werden. Da hat man dann entschieden: Lasst uns in den nächsten 30 bis 40 Jahren einen Campus von Weltrang aufbauen. Das Land Baden-Württemberg hat deshalb für Hunderte von Millionen Euro alle Kliniken und Institute der Uniklinik erneuert und dorthin umgezogen. Wir haben hier heute auf nur einer Quadratmeile 22.000 Arbeitsplätze und 16.000 Studierende in Life Science und Medizin. Und wir sind immer noch nicht Weltliga. Wir sind zum Beispiel noch meilenweit davon entfernt, wie selbstverständlich internationale Top-Wissenschaftler und Investoren anzuziehen.(...)
In der Fortsetzung des Interviews geht es um Personen und Strukturen, um politisch beauftragte Studien und politisch gewollte Ergebnisse, um Spitzencluster und den viel zu großen (in Augen von Tidona) Flickenteppich von Standorten, denen für internationale Erfolge die kritische Masse fehle. Es ist keine "kalte Schulter", die Heidelberg hier zeigt, sondern die Ermunterung über Landes- und Stadtgrenzen hinaus zu denken, so wie es die Unternehmen der Region längst machen würden, die sich aber nun in verschiedenen Standortinitiativen parallel engagieren, statt einen gemeinsamen großen Wurf zu entwickeln.
Prädikat lesens- und diskussionswürdig, hier geht es weiter zum Interview in der Mainzer Allgemeinen Zeitung.