Die US-Firma Merck & Co. (MSD) hat die US-Zulassung für das antivirale Medikament Prevymis erhalten. Die Substanz stammt ursprünglich aus Wuppertal. Die dort ansässige Aicuris Anti-infective Cures GmbH ist damit die erste Firma aus dem Investmentportfolio von Thomas und Andreas Strüngmann, die einen komplett neuartigen Wirkstoffkandidaten von der Pike bis zur Zulassung bringt.
Es dauert immer länger und kostet mehr als geplant, ließ sich Thomas Strüngmann vor einigen Jahren zitieren. Was den Zeitrahmen des ersten Biotech-Investments des Unternehmers angeht, dürfte allerdings kein Grund zur Klage bestehen: Von der Finanzierungszusage für die Bayer-Ausgründung Aicuris bis zur Zulassung der von Aicuris entwickelten Virusarznei Letermovir in einem großen Markt dauerte es nicht einmal zwölf Jahre.
Das sieht auch Hartmut Jeggle so. Jeggle ist Geschäftsführer der Santo Holding (Deutschland) GmbH, der wichtigsten Beteiligungsgesellschaft im Bereich Life Sciences der Zwillinge Andreas und Thomas Strüngmann, Gründer des für 5,65 Mrd. US-Dollar an Novartis verkauften Generikaherstellers Hexal. „Bei Aicuris haben wir das Ziel wie geplant erreicht“, sagt Jeggle im Gespräch mit |transkript. „Mit dieser Zulassung bestätigt sich unsere Strategie, bewusst in der Rolle des Leadinvestors in einzelne Unternehmen zu gehen.“ In der Tat wäre die deutsche Biotechnologie-Landschaft deutlich kahler, wenn sich die „Doctores Strüngmann“ nicht entschieden hätten, Teile ihres Vermögens in hiesige Wirkstoffentwickler zu stecken. Das große Ziel der mit Nachahmerpräparaten erfolgreich gewordenen Brüder ist somit erreicht: Ein von einer ersten Idee an entwickeltes Wirkstoffentwicklungsprogramm mündet in ein zugelassenes Originalpräparat.
„In der Firma ging es rund“
„Ich saß bis nachts zwei Uhr vor dem Rechner und habe gewartet, bis die Info kam“, berichtete Aicuris-Chef Holger Zimmermann von Letermovirs Zieleinlauf Anfang November. Aicuris hatte die Substanz 2012 an Merck & Co. Inc. (MSD, USA) auslizenziert. Nach einer positiven Phase III-Studie reichte MSD den Zulassungsantrag im März 2017 ein schließlich ein. Seitdem wartete man auch bei Aicuris in Wuppertal auf die Entscheidung der zuständigen Behörde. „Es ist spannend bis zum Schluss, da immer noch etwas Unerwartetes passieren kann“, so Zimmermann weiter. „Als die E-Mail dann endlich kam, habe ich zunächst nur noch ziemlich geschafft den Rechner zugeklappt, bin langsam die Treppe hochgegangen und dann kam auf einmal die erste Erleichterung und große Freude. Am nächsten Tag ging es in der Firma natürlich rund.“
„Es ist ganz selten, dass Forscher wie Herr Zimmermann und ich die Zulassung eines Medikamentes erleben, an dessen Erforschung und Entwicklung man vom Labor über die Klinik bis zur Zulassung beteiligt war. Das Ereignis ist zu groß, als dass es so nebenher läuft“, sagt Helga Rübsamen-Schaeff, Gründungsgeschäftsführerin von Aicuris und derzeit Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats. „Bei mir sackt es noch“, pflichtet Zimmermann bei.
BAY-73-6327, AIC-001, AIC-246 und MK-8228 – der Erfolg hat viele Namen. Ärzte und Patienten werden Letermovir in Zukunft aber vor allem als Prevymis kennenlernen. Unter diesem Namen will MSD das Mittel schon im Dezember in den USA auf den Markt bringen. Die US-Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) hat Prevymis als Mittel zur Vorbeugung von Infektionen und Erkrankungen mit dem Herpesvirus HCMV, humanes Zytomegalievirus, zugelassen. Es kann nun bei jenen erwachsenen Empfängern fremder hämatopoetischer Stammzellen (Knochenmarkstransplantation) zum Einsatz kommen, die bereits Antikörper gegen CMV-Antigene besitzen. CMV ist eine häufig auftretende und besonders bei dieser Patientengruppe potentiell schwerwiegende Virusinfektion, da ein hohes Risiko für eine Reaktivierung des Virus besteht. Jegliche Prävention einer Infektion reduziert die Sterblichkeit von Stammzelltransplantations-Patienten. Bisher verfügbare antivirale Arzneimittel zur Infektionsprophylaxe bei den Knochenmarksempfängern weisen im Gegensatz zu Prevymis ein problematisches Nebenwirkungsprofil auf. Zimmermann erwähnt stolz, dass der Erfolg nicht selbstverständlich ist. So seien kürzlich zwei Biotech-Unternehmen in den USA mit ihren Kandidaten in dieser Indikation gescheitert.
Für MSD steht fest, dass Letermovir zu einem Paradigmenwechsel beim Umgang mit CMV-Infektionen führen wird. „Man denkt hier auch über weitere Anwendungen jenseits von Knochenmarkstransplantationen nach, zum Beispiel über die Anwendung bei Organtransplantationen“, sagt Zimmermann. Der Aicuris-Lenker sieht auch bei den Knochenmarkstransplantationen noch Raum für Verbesserungen: „Im Rahmen der Phase III-Studie wurde Letermovir von Tag 1 nach der Transplantation bis zu Tag 100 gegeben. In der Studie wurden aber noch weitere 100 Tage Beobachtungszeit ohne Letermovir-Gabe analysiert. Hier sah man, dass ohne Behandlung Infektionen wieder häufiger auftreten. Logisch, dass dann auch die FDA darauf hinwies, dass Letermovir die Patienten bei einer Gabe an insgesamt 200 Tagen noch besser schützen könnte.“
Den neuartigen Wirkstoff entwickelte Aicuris bis zum Ende der Phase IIb, bevor er 2012 exklusiv an MSD auslizenziert wurde. Damals flossen Aicuris im Rahmen der Vereinbarung 110 Mio. Euro vorab zu. Mit der FDA-Zulassung kommen nun noch 105 Mio. Euro oben drauf. Außerdem sei künftig mit einer signifikanten Umsatzbeteiligung zu rechnen. Aicuris weiter: „Durch die nun fällige Meilensteinzahlung erlangt das Unternehmen finanzielle Flexibilität, seine volle Pipeline an klinischen Projekten weiter voranzutreiben.“ Zu nennen sind hier Wirkstoffkandidaten gegen Herpes simplex, Hepatitis B und multiresistente Bakterien.
Die Zulassung gilt zunächst für die USA, wo es das erste neue Medikament gegen CMV-Infektionen seit 15 Jahren ist. Für Europa läuft der Zulassungsprozess noch, ist nach einer Empfehlung des Ausschusses für Humanarzneimittel CHMP der Europäischen Arzneimittelagentur wohl aber nur noch Formsache. Lob verteilt Zimmermann auch an die Investoren: „Ohne das langfristige Bekenntnis der Strüngmann-Brüder hätten wir es nicht geschafft. Das muss man ganz klar sagen. Sie haben an uns geglaubt und sind mit uns durch dick und dünn gegangen. Es freut mich auch riesig für die beiden, dass es geklappt hat.“ Über die Jahre haben Andreas und Thomas Strüngmann einen dreistelligen Millionenbetrag in Aicuris investiert. Kolportiert wird eine Summe von 200 Mio. Euro. „Ich freue mich, dass wir das in uns gesetzte Vertrauen haben rechtfertigen können“, ergänzt Rübsamen-Schaeff. „Ich habe damals zu Thomas Strüngmann gesagt, wenn wir nur eine Substanz aus unserem Bayer-Portfolio in den Markt bringen, haben wir bereits gewonnen.“
Das Vertrauen war offenbar so groß, dass die Santo Holding fast auch die zulassungsrelevante Studie für Letermovir im Alleingang finanziert hätte. Jeggle erinnert sich an das Jahr 2012, als diese Entscheidung anstand. „Die erfolgreichen Exits von Suppremol und Ganymed waren damals noch nicht absehbar. Wir als Investoren hatten das Gefühl, dass wir nach sechs Jahren im Geschäft eine erste Bestätigung unserer Arbeit von außen einholen sollten. Deswegen sind wir den Lizenzdeal mit MSD eingegangen.“ Auch nach dem ersten Schwung in den Jahren 2006 bis 2008 blieb die Beteiligungsfirma der Strüngmann-Brüder als Investor aktiv, zuletzt 2014 bei der Münchener Imevax GmbH. Demnächst könnte ein neues Projekt folgen. Aus Technologiesicht werde man laut Jeggle damit an „vorderster Front“ sein. Wer unter den aktuellen Beteiligungen für ein zweites zugelassenes Originalpräparat sorgen könnte, ist noch nicht absehbar. 4SC sei ein Kandidat, aber auch Aicuris könnte dem ersten bald einen zweiten Streich folgen lassen. Nach dem erfolgten Exit sei indes auch ein Ganymed-Programm ein heißer Anwärter.
Die Wuppertaler Gesellschaft kann indes weiter auf ihre Hauptinvestoren zählen. Dem Vernehmen nach genießt die Firma den vollen Rückhalt der Brüder. Die hatten in der Vergangenheit einmal das Ziel geäußert, ein bis zwei große Biotech-Firmen nach US-amerikanischem Vorbild aufbauen zu wollen. Insbesondere mit Biontech ist man da auf einem guten Weg. Doch wie stehen die Chancen bei Aicuris? Offenbar gut, denn gegenüber dem Handelsblatt äußerte Thomas Strüngmann, dass das Unternehmen „über eine Reihe weiterer hochinteressanter Projekte“ verfüge. „Der Traum ist, dass wir die Firma weiterentwickeln“, sagt Zimmermann. „Das Ziel ist ein nachhaltiges, integriertes Biopharma-Unternehmen, das nicht zwangsläufig bei der Phase II aufhört. Hier haben wir jetzt Zeit zu entscheiden, ob und in welchen Regionen und Indikationen es sinnvoll ist, einen Kandidaten allein bis zur Zulassung zu bringen. Es gibt Szenarien, die sich hier eher als andere für ein kleines Biotech-Unternehmen eignen.“
Die Frage nach der wichtigsten Erkenntnis der vergangenen Jahre beantwortet Zimmermann mit der Differenzierung der Programme: „Wir haben immer darauf geachtet, dass sich unsere Kandidaten von dem unterscheiden, was bereits im Markt ist beziehungsweise was im Markt erwartet wird.“ Außerdem habe man versucht, die Substanzen in der frühen klinischen Entwicklung so gut wie möglich zu charakterisieren, ergänzt Rübsamen-Schaeff. „Das ist natürlich teuer. Aber dadurch kennen wir unsere Kandidaten sehr gut, was beim Design der späten klinischen Studien hilft.“ Gerade bei wagniskapitalfinanzierten Firmen sitzt der Daumen oft zu fest auf dem Geld, glaubt sie. „Bei wenigen und kleinen Studien haben die Ergebnisse dann natürlich keine hohe Aussagekraft und es kann passieren, dass man die weiteren teuren Studien dann falsch plant.“
Helga Rübsamen-Schaeff glaubt übrigens fest an eine Pillenschachtel mit dem Aufdruck Aicuris. „Es wäre wunderbar, wenn die Firma irgendwann auch einmal mit einem Produkt direkt auf den Markt geht. Wir haben ja noch mehr Projekte aus der damaligen Forschung. Aicuris wäre dann so etwas wie der Stern im Tal der Wupper“, gerät sie ins Träumen. „Als ich damals alleine an meinem Schreibtisch saß und überlegte, wie wir Aicuris gründen könnten, mit welchen Projekten, mit welchem Geschäftsmodell, mit welchem Investitionsbedarf, wo und mit welchem Namen und so weiter, hatte ich dieses Bild vor Augen.“ Aus der deutschen Biotech-Szene gab es übrigens viele positive Rückmeldungen zu diesem Erfolg. „So eine Zulassung ist natürlich auch ein tolles Zeichen für das gesamte Ökosystem hier im Land“, sagt Rübsamen-Schaeff. „So wie wir uns über jeden Erfolg einer anderen deutschen Biotech-Firma freuen, dürfen sich jetzt viele mit uns freuen.“
Erschienen in |transkript 12/17.