Innerhalb des EIT Health-Projektes R2U-Tox-Assay werden erstmals gebrauchsfertige, aus humanen Stammzellen abgeleitete zelluläre Toxizitätstests etabliert, um die Arzneimittelsicherheit abzuschätzen. Interview mit Dr. Ina Meiser vom Fraunhofer-IBMT über erste Erfahrungen.
LABORWELT. Frau Dr. Meiser, humane induziert-pluripotente Stammzellen gelten als vielversprechend, wenn es darum geht, Toxizitäten neuer Medikamentenkandidaten einzelner Zelltypen vor klinischen Studien abzuschätzen. Wie ist der Stand Ihres Projektes innerhalb des EIT Health?
Meiser. Im Projekt „Ready-to-use Toxicity Assay (R2U-Tox-Assay)“ werden spezialisierte, reife Zellmodelle aus humanen induziert-pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) in Multiwell-Platten generiert und lagerfähig gemacht. So können sie unmittelbar in Toxizitätsstudien eingesetzt werden, als aussagekräftigere Modellsysteme für pharmazeutische Studien. Für die meisten solcher Studien werden derzeit noch Tierzelllinien oder Tierversuche genutzt, deren Ergebnisse nur in begrenztem Maße auf den Menschen übertragen werden können. Jetzt, im ersten Jahr des Projektes, werden aus umfassend charakterisierten hiPS-Zellen spezialisierte Zelltypen für Studien im kardiologischen und neurologischen Bereich generiert, die gewebespezifische Proteine und Funktionalitäten aufweisen, wie zum Beispiel intrazellulären Kalziumflux bei Kardiomyozyten. In den genannten klinischen Einsatzbereichen treten besonders häufig Wirkstoff-induzierte Toxizitäten auf. Das hat schon häufig zum Abbruch klinischer Studien mit Wirkstoffkandidaten in früher Entwicklungsphase und sogar zu Rücknahmen bereits zugelassener Medikamente vom Markt geführt.
LABORWELT. Aus welchen Erfahrungen aus Projekten mit ähnlicher Zielrichtung, wie Stembancc, von CROs wie etwa Evotec oder von Firmen wie Mogrify oder Bit Bio oder aus industrienahen Konsortien, haben Sie und die Mitglieder am meisten gelernt und wie ist dies in die Assayentwicklung eingeflossen?
Meiser. R2U-Tox-Assay verbindet ein starkes europäisches Konsortium mit komplementären Expertisen aus der Grundlagenforschung (Institute for Bioengineering of Catalonia (IBEC), Barcelona), der pharmazeutischen Industrie (Janssen Pharmaceutica N.V., Beerse, Teil der Janssen Pharmaceutical Companies von Johnson & Johnson) sowie der angewandten Forschung (Fraunhofer-IBMT, Sulzbach,und Fraunhofer-Projektzentrum für Stammzellprozesstechnik, Würzburg). Neben anderen nationalen Projekten fließen hauptsächlich Erfahrungen aus dem EU-Projekt EBiSC und dessen Nachfolgeprojekt EBiSC2, jeweils gefördert durch die Innovative Medicines Initiative (imi), in das EIT Health Projekt R2U-Tox-Assay mit ein. EBiSC2, koordiniert durch das Fraunhofer-IBMT, betreibt die Europäische Bank für induzierte pluripotente Stammzellen (EBiSC) und erweitert deren Portfolio unter anderem um geneditierte und krankheitsspezifische hiPS-Zelllinien sowie verschiedene Vorläuferzellen. Die hiPS-Zelllinien, die aktuell als Ausgangsmaterial für spezialisierte Zelltypen in R2U-Tox-Assay genutzt werden, wurden aus der EBiSC-Bank bezogen und profitieren von deren etablierten Qualitätsstandards. Zudem kommen in R2U-Tox-Assay Technologien aus EBiSC zum Tragen, die eine schnelle und effiziente Etablierung von Expansions- und Differenzierungsprozessen in skalierbaren Bioreaktoren ermöglichen und so einen sehr schnellen Projektstart erlaubten.
LABORWELT. Inwieweit bringt Ihr R2U-Assay eine neue Qualität hinsichtlich der humanen zellbasierten Toxizitätsprüfung ein und wie genau?
Meiser. Aktuell produzieren die meisten Anwender die benötigten Zellmodelle, die üblicherweise adhärent auf einer Oberfläche wachsen, selbst in zeitaufwendigen Differenzierungsschritten. Nur so können sie ihre Funktionalität ausbilden, die in Toxizitätsstudien überprüft wird. Eine zeitunabhängige Lagerung, bei gleichbleibender Qualität des Produktes ist derzeit nicht möglich, so dass die Zellmodelle nach Bedarf produziert werden müssen. Das Projekt R2U-Tox-Assay entwickelt Zellmodelle auf Assayplatten, die mittels eines spezielles Kryokonservierungsverfahrens, der Vitrifikation, bei kryogenen Temperaturen unter – 140°C zeitlich unbegrenzt gelagert und unmittelbar verwendet werden können. Bei einer Vitrifikation setzt keine Eiskristallisation ein, die Zellen nur überstehen, indem sie von der Oberfläche gelöst werden. Der aktuelle Stand der Technik bei kommerziell erhältlichen Zelltypen ist demnach, dass Einzelzellen in Suspension kryokonserviert und verschickt werden. Unter dem dazu notwendigen Dissoziationsschritt leidet der Reifestatus der Zellen und somit auch ihre Eignung für pharmazeutische Tests, was zeitaufwendige ReDifferenzierungs- und Kultivierungsschritte notwendig macht. Die Vitrifikation ermöglicht also den Erhalt und die Lagerung adhärenter und damit funktionaler Zellen. Ein weiterer zentraler Teil des Projektes ist darüber hinaus, dass die zugrundeliegenden hiPS-Zellen auch hinsichtlich bestimmter Fragestellungen optimiert werden können. Durch Gen-Editierung sollen im Laufe des Projektes Reporterzelllinien generiert werden, die Endpunktanalysen, zum Beispiel durch die Expression eines bestimmten Farbstoffes, vereinfachen und beschleunigen.
LABORWELT. Wie funktioniert der Assay und wie sieht es mit der Skalierbarkeit und reproduzierbaren Qualität der dafür benötigten hiPS aus?
Meiser. Die Produktionsplattform, die im Projekt konzipiert wurde, ist nach dem Scale-out-Verfahren skalierbar. Das heißt, dass die Erhöhung des Durchsatzes durch die Steigerung der Ansätze erfolgt und nicht durch die Änderung der Umgebungsparameter innerhalb eines Ansatzes aufgrund der Volumenerhöhung. Differenzierungsschritte können so stets unter exakt gleichen Bedingungen ablaufen, wodurch eine reproduzierbare Produktqualität gewährleistet ist. Durch die anschließende Kryokonservierung der Assayplatten, die im standardisierten Mikrotiterplattenformat vorliegen, wird der aktuelle Zustand im wahrsten Sinne des Wortes eingefroren. Die Testsysteme können danach je nach Bedarf versandt oder eingelagert werden. Sie stehen jederzeit auf Abruf schnell und problemlos zur Verfügung. Je nach Fragestellung werden die R2U-Tox-Assayplatten kurz vor Anwendung aufgetaut und unmittelbar und bei gleichbleibender Qualität in bereits auf Anwenderseite etablierten Testverfahren in Standardarbeitsabläufen integriert. Durch die in dieser Form zur Verfügung gestellten humanen Zellmodelle kann die spezifische Toxizität auf das Zielorgan genauer nachgewiesen werden.
LABORWELT. Wie werden die benötigten Zelltypen für das Toxscreening erzeugt?
Meiser. Zur Generierung der spezialisierten Zelltypen (Kardiomyozyten und Neurone) werden hiPS-Zellen aus der EBiSC-Bank als Ausgangsmaterial genutzt. Die Differenzierung erfolgt in skalierbaren Suspensionsbioreaktoren in qualitätskontrollierten Arbeitsschritten, die homogene Umgebungsbedingungen garantieren. Über die zeitlich versetzte Zugabe verschiedener Differenzierungsfaktoren werden Signalkaskaden in den Zellen ausgelöst, die deren Reifung in die gewünschten Zelltypen triggern. Im Falle des kardialen R2U-Tox-Assays entstehen bereits nach sieben Tagen autonom schlagende Zellcluster, die zunächst weiter in Suspension kultiviert, dann dissoziert und anschließend zur finalen Reifung in die Assayplatten ausgesät werden.
LABORWELT. Welche Untersuchungen wurden durchgeführt, um sicherzustellen, dass die Zellen durch Einfrier- und Auftauprozesse nicht ihre charakteristischen In-vivo-Eigenschaften verlieren?
Meiser. Neben Standardanalysen auf Vitalität der Zellen zum Beispiel durch die Metabolisierung eines Stoffes und die Überprüfung der Membranintegrität werden immunzytochemische Färbungen sowie molekularbiologische Analysen (FACS und qPCR) durchgeführt. Für letztere Methoden werden entsprechende Marker gewählt, die spezifisch auf die entsprechend gewünschten Zelltypen zugeschnitten sind. Schließlich werden funktionelle Assays durchgeführt, wie zum Beispiel Kalziumflux bei kardialen R2U-Tox-Assays oder elektrophysiologische Messungen bei neuronalen R2U-Tox-Assays.
LABORWELT. Ist die Entwicklung abgeschlossen oder forschen und optimieren Sie weiter? Wie sieht die Zukunftsperspektive aus?
Meiser. Die Entwicklungsperspektiven in diesem hochspannenden Forschungsfeld sind groß und werden im Projekt R2U-Tox-Assay addressiert. Beispielsweise gibt es Ansätze, den Reifegrad der Zellmodelle über bestimmte Oberflächenbeschaffenheiten weiter zu optimieren. Oder Ansätze, neben den hiPS-Zelllinien aus dem EBiSC-Portfolio auch weitere, geneditierte Linien, die auch kundenspezifisch ausgelegt sein können, in das Projekt mit einzubinden. Das Konsortium ist überzeugt, dass die R2U-Tox-Assay-Produkte neue Standards in der pharmazeutischen Industrie setzen werden. Mit den spezifischen Zellmodellen, die zeitlich unbegrenzt lagerfähig sind, können Tierversuche reduziert und durch den humanen Ursprung signifikante, standardisierbare Aussagen zur spezifischen Toxizität getroffen werden, die bei der Medikamentenentwicklung einen entscheidenden Vorschub verspricht.
aus transkript 3/2020, LABORWELT-Spezial Zellbiologie & Genomics