Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Pflanzen, die mit neuen Verfahren zur zielgerichteten Erbgutveränderung erzeugt wurden, unterliegen künftig der Gentechnik-Richtlinie. Damit schlägt Europa global gesehen einen Sonderweg ein. Pflanzenzüchter, Landwirte und Wissenschaftler sind alarmiert.
Sorge, Zweifel, Verwirrung, Unverständnis, Überraschung – die Bandbreite der Gefühle aller, die sich in der Biotechnologie auskennen, war groß. Ende Juli hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt, dass mit neuen Züchtungsverfahren erzeugte Pflanzen künftig in der Europäischen Union (EU) grundsätzlich den Auflagen der EU-Gentechnik-Richtlinie (Freisetzungsrichtlinie 2001/187 EG) unterliegen – auch wenn dabei keine artfremde DNA eingeschleust wurde. Sie gelten damit als gentechnisch veränderte Organismen (GVO). Ihre Weiterverwendung muss rückverfolgbar sein und darauf basierende Produkte müssen auf den GVO hinweisen. „Dass das Urteil nicht zu 100% im Sinne der Züchter ausfallen würde, damit hatten wir gerechnet“, sagt Jon Falk, Geschäftsführer der Saaten-Union Biotec GmbH. „Ein derart extremes Urteil war aber äußerst überraschend.“ Falk zufolge war ein Kompromiss erwartet worden: „Aus rein fachlicher Sicht gibt es genügend Argumente, nach denen keine der genomeditierten Pflanzen über den komplexen, teuren und aufwendigen Weg nach der EU-Gentechnik-Richtlinie zugelassen werden müsste.“ Allerdings spielten zum Beispiel auch ethische Fragen eine Rolle. „Die Hoffnung war daher, dass man im Dialog zu einer differenzierten Betrachtung kommt. Je nach Fall hätte man einige neue Züchtungen nach dem einfachen, andere nach dem komplexen Verfahren zulassen können. Die vorgebrachte pauschale Ablehnung hat alle ziemlich entsetzt“, so Falk.
Wenn von „neuen Züchtungsverfahren“ gesprochen wird, ist die Rede von einer präzise gesteuerten Veränderung des Erbguts. Diese sogenannte zielgerichtete Mutagenese ist von der klassischen Mutagenese zu unterscheiden (siehe Hintergrund).
Das Urteil des obersten rechtsprechenden Organs der Europäischen Union hat auch deshalb für so viel Furore gesorgt, weil noch vor einem halben Jahr ein offizielles Vorabentscheidungsersuchen des EuGH zu dem Schluss kam, dass mit den neuen Züchtungsmethoden entwickelte Organismen nicht unbedingt unter die durch die Gentechnik-Richtlinie 2001/18/EG bestimmte Regulierung fallen müssen. Das Vorabentscheidungsersuchen ist für den EuGH nicht bindend. In der Regel folgt er den Einschätzungen – allerdings nicht im aktuellen Fall.
Wie gehabt fallen unter die Gentechnik-Richtlinie weiterhin Pflanzen, in deren Erbgut im Züchtungsprozess oder im Endprodukt artfremde Sequenzen eingebracht wurden (siehe Abb S. 10, links). Durch die gesetzlich geregelte, sogenannte Mutagenese-Ausnahme fallen Pflanzen, die mit klassischer Mutagenese entwickelt wurden, nicht unter die Richtlinie (rechts). Die vom Gericht zu klärende Frage war nun, ob auch einige sich im Graubereich befindlichen neuen Züchtungsmethoden zu diesen Ausnahmen zählen (Mitte).
Eine naturwissenschaftliche Beratung war den Richtern nicht vorgeschrieben worden – und sie nahmen sie auch nicht in Anspruch. Folglich ging es rein um die juristischen Auslegung des Textes der bestehenden GVO-Richtlinie. Hier kam das Gericht zu dem Schluss, dass der Gesetzestext auch bei neuen, beim Verfassen der Richtlinie noch nicht absehbaren Technologien zur Anwendung kommt. Der beschlossene Ausnahmenkatalog hingegen ist in Stein gemeißelt und darf nicht erweitert werden. Kein Verfahren, das nach 1990 – oder je nach Lesart 2001 – entwickelt wurde, wird jemals zu den Ausnahmen gehören.
Das Urteil geht auf eine Klage französischer Naturschutzorganisationen und Bauernverbände wie die Confédération paysanne zurück. Sie hatten im Herbst 2016 geklagt, nachdem in Frankreich ein durch zielgerichtete Mutagenese gewonnener herbizidresistenter Raps als zur Mutagenese-Ausnahme gehörig klassifiziert wurde. Auch das deutsche Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) hat in jüngster Vergangenheit einige mit neuen Verfahren gezüchtete Pflanzen nicht zu den GVO gezählt.
Die Reaktion des BVL auf den Richterspruch ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Bereits Mitte August zog die Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundeslandwirtschaftsministeriums ihre Einschätzung aus dem Jahr 2015 zurück, dass eine Rapssorte der US-Firma Cibus kein GVO sei. Die Mutagenese-Ausnahme in der EU-Freisetzungsrichtlinie sei eng auszulegen, argumentiert die Behörde. Bei der Cibus-Züchtung kam eine Methode der zielgerichteten Mutagenese zum Einsatz, die Oligonukleotid-gesteuerte-Mutagenese. „Für durch derartige Verfahren erzeugte Organismen greift der Ausnahmetatbestand der Mutagenese in der Richtlinie nicht, weil diese Form der Mutagenese in der Pflanzenzucht erst seit kurzem angewendet wird“, so das BVL in der Stellungnahme.
Alle Konsequenzen des Urteils sind in ihrer ganzen Breite indes noch nicht absehbar. Die drei drängendsten Fragen dürften sein: 1) Was bedeutet das Urteil für Züchter in Europa, die Verfahren der zielgerichteten Mutagenese einsetzen (wollen). 2) Hat das Urteil Auswirkungen auf die Züchtung von Pflanzen mit klassischer Mutagenese? 3) Auf welche Auswirkungen müssen sich Landwirte und Verbraucher einstellen?
1. Züchter orientieren sich neu
„Die Technologie ermöglicht Züchtungen, die bisher nicht so ohne weiteres möglich waren“, ordnet Jon Falk die Bedeutung der neuen Verfahren ein. „Sie ist natürlich auch kein Allheilmittel, das eine neue Grüne Revolution einläutet“, so der Manager. Da infolge des Klimawandels die Forderungen an die Pflanzenzüchter nach stressresistenten, aber dennoch ertragreichen Nutzpflanzen steigen, findet Falk es „grob fahrlässig“, wenn einem vielversprechenden Werkzeug wie der zielgerichteten Mutagenese nicht der Weg bereitet wird.
„Die zielgerichtete Mutagenese ist vor allem dort besser als andere Verfahren, wo die Genetik des zu verändernden Merkmals bekannt und verstanden ist“, erläutert Stephanie Franck, Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Pflanzenzüchter e. V. (BDP). „Bei gut erforschten Merkmalen wie der Mehltauresistenz bei Getreiden ist der Einsatz der neuen Züchtungsmethoden von großem Vorteil. So ist es zum Beispiel 2014 chinesischen Wissenschaftlern gelungen, gegen Mehltau resistenten Weizen zu erzeugen, indem alle dafür kritischen Gene mit der Methode CRISPR/Cas punktuell modifiziert wurden. In den USA werden diese editierten Weizensorten bereits im Freiland getestet.“
In Deutschland waren die Züchter bisher vorsichtig bei der Anwendung der neuen Verfahren. „Die Pflanzen dieser Projekte wurden in den Züchtungsbetrieben immer streng von anderen Pflanzen getrennt gehalten. In weiser Voraussicht, dass die Neuheiten vielleicht doch einmal anders klassifiziert werden. Und so ist es ja jetzt gekommen“, sagt Falk. Insgesamt habe der Mittelstand schon beachtliche Eigenmittel in die Erforschung der Verfahren gesteckt (siehe Hintergrund). Erste Erfolge konnten deutsche Firmen zum Beispiel bei der Mehltauresistenz und der Platzfestigkeit der Rapshülsen beim Auftreten von Wetterextremen vermelden. Wenn die Züchtungsneuheiten nun nicht in Europa auf die Felder kommen, muss die Vermarktung international erfolgen. Falk, Chef der 80 Mitarbeiter zählenden Dienstleistungs- und Forschungsfirma Saaten Union Biotec, weist darauf hin, dass außer in Europa die neuen Züchtungen weltweit willkommen sind: „Die deutschen Züchter wollen nicht den Anschluss verlieren. Einige der neun Gesellschafter der Saaten Union Biotec sind zum Beispiel auch außerhalb Europas aktiv. Vor allem nach Kanada beim Raps oder nach Südamerika beim Getreide wurden Bande geknüpft.“
2. Fragezeichen bei der klassischen Mutagenese
Das Urteil des EuGH ist aber nicht nur ein Bremsklotz für neue Technologien. Eine andere, unter Umständen noch bedeutsamere Folge des EuGH-Spruchs unterstreicht die BDP-Vorsitzende Franck im Gespräch mit |transkript: „Wir verstehen das Urteil so, dass das EuGH festgestellt hat, dass sämtliche Mutagenese-Verfahren in den Regulierungsbereich der Richtlinie 2001/18/EG fallen – auch die Verfahren im Ausnahmenkatalog.“ Aufgrund der langen Historie der Verfahren und der gesammelten Erfahrungen gelten die als Ausnahmen festgehaltenen Verfahren der klassischen Mutagenese als sicher. Darauf basierende Produkte sind daher nicht als GVO zulassungspflichtig. Das könnte sich aber ändern: Die EU-Mitglieder könnten dem Urteil zufolge einzelstaatliche Reglungen treffen und auch diese klassischen, teilweise seit 60 Jahren erfolgreich angewandten Verfahren von der Ausnahme ausnehmen.
Die Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten der EU auch bei den mit klassischen Mutagenese-Verfahren erzeugten Pflanzen ist laut Falk „für die Pflanzenzüchter eine besorgniserregende Entwicklung“. Im Getreideanbau gibt es heutzutage faktisch keine Sorte, in die in der Entstehungsgeschichte nicht mindestens eine mit klassischen Mutageneseverfahren erzeugte Mutante eingekreuzt wurde. Jedes Jahr kommen einige Dutzend neue Getreidesorten auf den Markt – die große Mehrheit mit einer in der klassischen Mutagenese verwurzelten Historie. Über alle wirtschaftlich bedeutenden Pflanzen hinweg sind weltweit aktuell 3.000 Sorten auf dem Markt, die alle auf klassische Mutageneseverfahren zurückgehen. Werden Gerstensorten für die Brauer und Hartweizensorten für die Nudelindustrie also demnächst als GVO behandelt? „Eher unwahrscheinlich“, glaubt Falk. In dem Urteil sei ja darauf hingewiesen worden, dass diese Verfahren sich als hinreichend sicher erwiesen haben. Anders sieht die Situation bei Neuzulassungen aus. Sollte hier in der Züchtungshistorie einmal ein klassisches Mutageneseverfahren zum Einsatz gekommen sein, dann könnte auf einmal die Zulassung über die komplexe GVO-Richtlinie nötig sein. „Das kann man aus Sicht der Züchter gar nicht wollen. Die klassische Mutagenese wird auch in den kommenden Jahren ein wichtiges Werkzeug der Züchter bleiben“, sagt Franck.
Für die Verbandschefin ist klar: „Niemand kann ein ernsthaftes Interesse daran haben, mit der klassischen Mutagenese gezüchtete Pflanzen als GVO zu regulieren. Die werden breit angebaut, auch in der ökologischen Landwirtschaft. Wichtige, wesentliche Eigenschaften konnten mit diesen Methoden erfolgreich hervorgebracht werden. Uns fehlt ganz ehrlich die Phantasie, uns vorzustellen, dass ein europäisches Land diesen Weg beschreiten möchte.“ Franck warnt, dass die Lage komplett unberechenbar wird, wenn einzelne Länder der EU neue Pflanzensorten auf Basis klassischer Mutagenese-Verfahren unterschiedlich regulieren – die EU ein Flickenteppich.
3. Europa – eine Insel
Doch selbst wenn bei den klassischen Mutagenese-Verfahren alles beim Alten bleiben sollte, droht die europäische Saatgutindustrie abgehängt zu werden. „Unser wichtigstes Arbeitsmittel sind die genetischen Ressourcen aus aller Welt. Eher selten greifen die Züchter auf eine exotische Wildsorte zurück – dafür umso häufiger auf adaptierte Sorten aus anderen Ländern, die sich auf dem Feld bewährt haben“, erläutert Franck. Die Verbandschefin sieht die Gefahr, dass mit der zunehmenden Verbreitung genomeditierter Pflanzen in Russland, China oder den USA Europa isoliert wird. „Wir brauchen verlässliche Standards für den Import von Kreuzungspartnern“, fordert sie. Dies sei alles andere als eine triviale Aufgabe. Genomeditierte Pflanzen sind im Normalfall nur schwer als solche zu identifizieren und die Dokumentationspflicht ist im Ausland weniger streng als in Europa. „Wir als Züchter fordern hier Rechtssicherheit ein. Wenn hier nicht bald klare, nachvollziehbare und praktisch umsetzbare Importregelungen festgelegt werden, wird der Innovationsmotor in Europa vollends abgewürgt.“
Auch wenn die Züchter zu den am stärksten Betroffenen des Urteil gehören dürften, die Auswirkungen gehen weit über diese Branche hinaus. Nicht nur der Saatgut-Handel zwischen Europa und der Welt ist gefährdet. Im Zeitalter der Globalisierung ist die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft auf den Import von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus Ländern angewiesen, wo mit neuen Züchtungsmethoden erzeugte Pflanzen ohne Kennzeichnungspflicht angebaut werden dürfen. Der Einzelhandel um Rewe und Edeka begrüßt zwar das EuGH-Urteil, dürfte aber künftig mit dem Problem zu kämpfen haben, sein Label „ohne Gentechnik“ rein von genomeditierten Rohstoffen zu halten.
Mit dem Rückzug auf eine rein juristische Auslegung der Richtlinie 2001/187 EG hat der Europäische Gerichtshof den Druck auf die Politik immens erhöht. Zwei Szenarien sind denkbar. Bleibt das Urteil das letzte Wort, dürfte das über kurz oder lang der Sargnagel für die Pflanzenzüchtungsindustrie Europas und unter Umständen auch für die europäische Landwirtschaft sein. Denkbar wäre aber auch eine Anpassung der GVO-Richtlinie, um eine differenzierte Einteilung und Zulassung von neuen Pflanzenzüchtungen zu ermöglichen. Zwei Wissenschaftler vom Lehrstuhl für Systematische Theologie und Ethik der Universität Erlangen-Nürnberg sehen in dem Urteil gar die Chance auf einen ganz großen Wurf. In einem jüngst erschienenen Essay fordern Peter Dabrock und Matthias Braun: „Niemand muss vor dem Urteil verharren wie das Kaninchen vor der Schlange. Politik in Brüssel und den Mitgliedstaaten, prüft ernsthaft und habt zugleich Mut zu kühnen Visionen!”
(siehe Titelgeschichte |transkript 09/18)