Ohne-Gentechnik-Siegel - unseriöses Spiel mit Verbraucherinteressen
Während der Einsatz gentechnisch hergestellter Sorten auf allen anderen Kontinenten Normalität ist, scheint es in Europa fast unmöglich, sie von ihrem schlechten Ruf zu befreien.
Dabei wird die klassische Gentechnik in jüngster Zeit durch technische Fortentwicklung überholt und abgelöst durch neue technologische Verfahren wie die Genschere CRISPR-Cas9, die gezielte, punktgenaue Veränderungen der DNA durchführt und Pflanzen erzeugt, denen man nicht mehr nachweisen kann, auf welche Art sie gezüchtet wurden.
Der Europäische Gerichtshof hat diese Problematik erkannt und 2018 entschieden, dass fortan alle Züchtungsverfahren, bei denen wesentliche Eingriffe in die Erbsubstanz vorliegen, vor dem Gesetz als gentechnische Verfahren gelten. Daher müssen nun auch bisher in Europa „normale“ Mutagenesezüchtungen, die in der Pflanzenzüchtung üblich sind, als gentechnisch verändert deklariert werden.
Seit diesem Urteil ist nicht nur die in Deutschland beliebte „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung Verbrauchertäuschung. Vor dem Hintergrund kritischer deutscher Verbraucher, die aus Unwissenheit und Angst gentechnisch veränderte Pflanzen ablehnen, ist es Aufgabe der Politik, das EU-Gentechnikrecht im Sinne der Transparenz und Ehrlichkeit, vor allem aber auch mit Blick auf die Zukunft, zu überarbeiten.
Fragt man Verbraucher nämlich, was konkret sie ablehnen, sind das zu 98 % gentechnisch hergestellte Nahrungsmittel, während 86% laut einer Umfrage des Bundesinstituts für Risikobewertung von den neuen Methoden mit der Genschere noch nie gehört haben.
Wüssten die Menschen aber, dass gezielte Eingriffe mit der Genschere nicht nur sehr schnelle Ergebnisse bringen, sondern auch risikoärmer in der Anwendung sind als jetzige klassische Mutagenesezüchtungen, wäre die Akzeptanz vermutlich deutlich höher. Denn das Potential neuer Züchtungsmethoden ist riesig: Neue Sorten könnten entstehen, die durch gezielte Resistenzen den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduzieren und damit die Umwelt schonen oder den Einsatz von Düngemitteln durch eine bessere Nährstoffverwertung reduzieren. Sie könnten möglicherweise Luftstickstoff verwerten, indem man auch Weizen mit einer leguminosenähnlichen Wurzel ausstattet. Unerschöpfliche Möglichkeiten – aber genau darin sehen die meisten noch mehr Gefahren als Chancen.
Heute sind mehr als 800 Millionen Menschen unter- oder fehlernährt. Die Weltbevölkerung wächst weiter und mit dem Streben nach Wohlstand wird sich die Nachfrage nach Lebensmitteln verdoppeln. Zugleich sind die Anbauflächen rückläufig. Auf begrenzter Fläche müssen immer mehr Nahrungsmittel nachhaltig produziert werden. Dabei steigt das Risiko für Ernteausfälle aufgrund der Erderwärmung, denn Extremwetterlagen, Pflanzenkrankheiten und Schädlinge sind schon heute reale Bedrohungen für die Landwirtschaft. Wir haben es in Deutschland am Hitzesommer 2018 und der massiven Trockenheit auch in diesem Jahr gesehen.
Moderne Pflanzenzüchtung ist ein zentraler Baustein zur Lösung. In Deutschland sind Pflanzenzüchter klein- und mittelständisch organisiert und züchten Pflanzen standortangepasst. Damit das große Wissen, das diese kleinen Unternehmen haben, uns in Zukunft zur Verfügung steht, und damit die Verbraucher eine wahre Kaufentscheidung treffen und sich ehrlich für oder gegen Gentechnik entscheiden können, muss jetzt gehandelt werden. Wir brauchen ein modernes Gentechnikrecht, das die klassische Gentechnik klar von den neuen Züchtungsmethoden abgrenzt, auch regulatorisch. Und wir brauchen eine Aufklärungsoffensive, um Wissen und Ethik bei der Veränderung von Pflanzen auf einen Nenner zu bekommen.
Erschienen in |transkript 03/2019