Biotechnologie steht in Harmonie mit der Natur
Die meisten Menschen wollen in Harmonie mit der Natur leben. Natürliches Essen zu sich nehmen, natürliches Toilettenpapier benutzen. So weit, so gut. Das Problem: dieses intuitive Gefühl wird auf skurrile Weise rationalisiert. „Natürlich“ wird gleichgesetzt mit „gesund“ oder mit „ökologisch nachhaltig“.
Dass dies nicht so einfach ist, ist in wissenschaftlichen Kreisen fast schon zu einer Binsenweisheit geworden. Ob eine Ernährungsweise gesund ist, hängt in erster Linie von ihrer chemischen Zusammensetzung ab, und die ökologische Nachhaltigkeit ließe sich vielleicht am besten beschreiben als die Summe der Umwelteinflüsse über den Lebenszyklus hinweg.
Einfach gesprochen: Unserem Körper ist es egal, ob der Muffin mit „unnatürlichem Industriezucker“ oder „natürlichem Kokosblütenzucker“ gebacken wurde. Und den Orang-Utan interessiert es wenig, ob auf den Feldern, für die sein Regenwald gerodet wurde, jetzt „natürliche“ Pestizide zum Einsatz kommen.
Nehmen wir an, wir erzeugen im gruselig unnatürlichen Labor ein Produkt, das eine extrem gute Nährstoffzusammensetzung und einen unschlagbar niedrigen Umweltfußabdruck hat. Müssten wir dann – entgegen aller Intuition –nicht zugeben, dass das Produkt gesund und ökologisch nachhaltig ist – wenn auch das Gegenteil von gefühlt natürlich?
Aber warum sind wir dann so versessen auf Natürlichkeit? Eine Antwort kann in der Moralpsychologie gefunden werden. Als Menschen scheinen wir eine Art angeborenen Hang zum „Reinen“ und „Heiligen“ zu haben. Lange hat Religion dieses Bedürfnis befriedigt, aber die spielt heute eine immer geringere Rolle. Also haben zeitgenössische Ideen und Ideologien diese Lücke besetzt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitete sich vor allem in Deutschland und der Schweiz die anti-moderne Lebensreformbewegung aus und brachte uns so schöne Dinge wie Naturheilkunde, Vollkorn, Veganismus, Müsli und Freikörperkultur. Diese Ideen wurden später von der Anthroposophie aufgegriffen und esoterisch-spirituell aufgeladen, woraus mit der Biodynamik die Urform des ökologischen Landbaus hervorging. Eine erneute Renaissance erlebte die Natürlichkeit in den 70er Jahren (auch angesichts sehr unnatürlicher Bedrohungen wie Atomkriegen und -unfällen, FCKW usw.), als außerdem auch in Europa und den USA fernöstliche Spiritualität in Form von Buddhismus, Daoismus oder Yoga an Bedeutung gewann.
Es lässt sich vermuten, dass diese – möglicherweise fernöstlichen – Ideen von Sanftheit und Harmonie sich auch heute noch verstärkt in Umweltschutzkreisen finden: mit der Natur, nicht gegen die Natur! Wie im Judo die Kraft des Gegenübers aufnehmen und in etwas Positives verwandeln. Segeln, nicht rudern! „Wenn du dir die Mühe machst, die komplexen agrarökologischen Systeme besser zu verstehen, brauchst du keine Gewalt in Form von giftigen Chemikalien oder schweren Maschinen“, heißt es.
Und da ist etwas Wahres dran: Wenn wir die komplexen Zusammenhänge verstehen, brauchen wir sie nicht zu vereinfachen und in Form zu pressen, und können so mit weniger Aufwand mehr erreichen.
Überraschenderweise trifft genau dies auch perfekt auf die Biotechnologie zu. Gerade in diesem Feld geht es doch darum, die Systeme so gut zu verstehen, dass wir mit minimalen Eingriffen die Kräfte der Natur nutzen können, um fast von allein Produkte wie lebenswichtige Medikamente, nachhaltige „Bio“-Materialien oder leckeren veganen Käse zu erzeugen.
Und vielleicht ist das ja viel natürlicher als zum Beispiel Kälbchen zu schlachten und dieselben Enzyme, die sich mikrobiell in künstlich anmutenden Stahlfermentern erzeugen lassen, aus ihren Mägen zu extrahieren. Denn selbst wenn wir die ganze Idee von Natürlichkeit für Unsinn halten – wir können nicht ändern, dass unsere Gehirne davon begeistert sind. Also können wir es genauso gut zu unserem Vorteil nutzen. Und zum Vorteil der … Natur.
Der Klartext ist soeben in der |transkript-Ausgabe 3/2023 erschienen.