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MDR: Firmenumfrage mit ernüchternder Bilanz

In einer gemeinsamen Unternehmensbefragung wollten DIHK, MedicalMountains und SPECTARIS im vergangenen Jahr herausfinden, welche Auswirkungen die Medizinprodukteverordnung nach zwei Jahren Gültigkeit auf die Medizintechnikbranche in Deutschland hat. Die Umfrageergebnisse sind nicht überraschend: zahlreiche Probleme belasten den Gesundheits- und Innovationsstandort Deutschland und führen dazu, dass Medizinprodukte vom Markt genommen werden. Die Initiatoren finden klare Worte und fordern von Brüssel kurzfristig pragmatisches Handeln.

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Seit zwei Jahren gilt die Medizinprodukteverordnung (MDR) und noch immer stellt sie die Unternehmen der Medizintechnikbranche vor große Herausforderungen. In einer gemeinsamen Befragung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), der MedicalMountains GmbH und dem Industrieverband SPECTARIS äußerten sich fast 400 Unternehmen zu den Auswirkungen der MDR. Diese führe dazu, dass bereits viele Medizinprodukte vom Markt genommen wurden – und bis 2027 drohen zahlreiche weitere zu verschwinden.

Drei Viertel der Unternehmen, die an der Befragung teilnahmen, verzeichnen negative Auswirkungen auf ihre Innovationstätigkeit. In mehr als jedem zweiten Produktportfolio werden einzelne Produkte oder komplette Produktionen und Sortimente vom Markt genommen – betroffen sind dabei alle 21 abgefragten Anwendungsgebiete.

Zwar wurden Ende 2022 die Übergangsfristen für Bestandsprodukte bis 2027/2028 verlängert, dies ändert jedoch nichts an den strukturellen Problemen. Im Gegenteil: Es manifestiert sich die Einschätzung aus der ersten gemeinsamen Erhebung im Frühjahr 2022, wonach die MDR nach wie vor nicht praxistauglich ist. Fast alle Betriebe (97 Prozent) haben weiterhin Probleme bei der Umsetzung – insbesondere aufgrund der hohen Kosten- und Bürokratiebelastungen. Unter den Herausforderungen steht an erster Stelle mit 67 Prozent der Aufwand zur Anpassung der technischen Dokumentationen. Hier sind die Kosten im Durchschnitt um 111 Prozent gestiegen. Dazu kommen durchschnittliche Kostensteigerungen von 124 Prozent bei der Einbindung einer Benannten Stelle, die für einen Marktzugang erforderlich ist.

Grund dafür, Produkte vom Markt zu nehmen, sind in 91 Prozent der Fälle die kompletten Zertifizierungskosten. Das wirkt sich besonders auf Nischenprodukte mit einem kleinen Absatzmarkt aus. Sie können nicht mehr wirtschaftlich vermarktet werden. Dazu kommt, dass die drastische Verfahrensverlängerung – bei 37 Prozent der Unternehmen um das Dreifache der Zeit vor der MDR – die Bereitstellung der Produkte massiv verzögert.

Daher mahnt Achim Dercks, stellvertretender DIHK-Hauptgeschäftsführer: „Die Politik muss die Wettbewerbs- und Innovationskraft der mittelständisch geprägten Medizintechnik-Branche erhalten und stärker in den Blick nehmen – das wäre auch wichtig für die zuverlässige Gesundheitsversorgung in der EU.“ Diese Entwicklung berge zugleich Zündstoff für weitere gesellschaftliche Debatten – auch, weil die EU damit nicht mehr unbestrittene Nummer 1 bei Neuzulassungen ist: Mehr als jedes fünfte Unternehmen weicht mit medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte aus – meistens in die USA.

Klare Worte
„Diese Ergebnisse halten der EU den Spiegel vor“, findet Julia Steckeler, Geschäftsführerin der MedicalMountains GmbH. „Wenn die USA aufgrund der schnelleren Zulassungsverfahren sowie planbarer Kosten und verlässlichen regulatorischer Anforderungen den Vorzug erhalten, ist ganz klar, woran gearbeitet werden muss.“ Das System weise noch zu viele Baustellen auf.

Martin Leonhard, Vorsitzender der Medizintechnik bei SPECTARIS, ergänzt: „Für die Industrie und die Patienten ist jetzt das Handeln der Politik gefordert“. Deutschland und die gesamte EU drohe abgehängt zu werden – einerseits im internationalen Wettbewerb, andererseits bei der Versorgung mit innovativen, aber auch speziellen und bewährten Medizinprodukten. Die Sirenen können lauter nicht sein, „wenn drei von vier Unternehmen angeben, dass sich die MDR negativ auf die Innovationsaktivitäten auswirkt“, so Leonhard.

In fast 20 Prozent der Fälle gibt es nach Angaben der teilnehmenden Unternehmen für die eigenen gestrichenen Produkte keine gleichwertigen Alternativen am Markt. Für Anwender und Patienten außerhalb der EU bleiben viele dieser Medizinprodukte jedoch weiterhin verfügbar. So vertreiben 58 Prozent der Unternehmen, die Produkte in der EU einstellen, diese weiterhin in Ländern außerhalb der EU – vornehmlich in den USA.

Dauerdruck auf KMU
Gerade die Situation der vielen kleinen Unternehmen ist besorgniserregend. Diese Unternehmen haben in der Regel weniger finanzielle und personellen Ressourcen zur Verfügung. Achim Dercks: „Unter dem Dauerdruck droht die mittelständisch geprägte Branche von der Basis her zu erodieren.“ 70 Prozent der Betriebe mit bis zu 49 Beschäftigten machen die hohen Zertifizierungskosten zu schaffen. In den Erwägungsgründen der MDR werde zwar ausdrücklich erwähnt, dass auch die Belange kleinerer und mittlerer Unternehmen zu berücksichtigen seien, aber „die Realität zeigt ein anderes Bild“, so Dercks.

Mit der Bilanz gehen DIHK, SPECTARIS und MedicalMountains GmbH nun in den weiteren politischen Dialog. „Die Zahlen müssen Brüssel nun zum schnellen Handeln bringen und kurzfristig zu pragmatischen, grundlegenden Schritten führen“, fordern die Initiatoren. Aussitzen sei keine Option mehr: Gingen Medizinprodukte sowie Forschungs- und Entwicklungs-Kompetenzen erst einmal verloren, könnten sie nur unter größten Mühen, wahrscheinlich aber gar nicht mehr zurückgeholt werden.

Die kompletten Umfrageergebnisse sind hier erhältlich.

Schweiz gibt Geld für Horizon-Programm frei

Der Schweizer Bundesrat hat Ende vergangener Woche 650 Mio. Franken für Ausschreibungen im Horizon Europe-Förderprogramm freigegeben. Da die Schweiz als nicht assoziierter Drittstaat gilt, wären Schweizer Wissenschaftler und Unternehmen ohne die Förderung von zwei Dritteln der Ausschreibungen des von 2021 bis 2027 laufenden EU-Programms ausgeschlossen.

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