Immunic/Nela Dorner

Fokus auf Langzeitschutz

Multiple Sklerose ist eine derzeit unheilbare, chronische Autoimmunerkrankung. Die gefürchteten Schübe können mit vorhandenen Therapien zwar gut kontrolliert werden, neuartige Ansätze zielen aber auf den wichtigen Schutz vor langfristigen Beeinträchtigungen ab.

Multiple Sklerose (MS) wird auch die Krankheit mit 1.000 Gesichtern genannt. Die Symptome und der Verlauf der Erkrankung variieren stark. Diese Variabilität ist darauf zurückzuführen, dass bei der Autoimmun-erkrankung das Immunsystem die Myelinscheiden angreift, die die Nervenfasern im zentralen Nervensystem umhüllen. Da diese Schäden an beliebigen Stellen im Gehirn und Rückenmark auftreten können, hängen die Symptome stark davon ab, welche Nervensystembereiche betroffen sind.

Weltweit haben etwa 2,8 Millionen Menschen MS – und jedes Jahr kommen rund 200.000 neue Diagnosen hinzu. Diese Zunahme verdeutlicht den dringenden ­Bedarf für verbesserte Therapiemöglichkeiten. „Denn die häufig größte Sorge von MS-Patienten ist das Fortschreiten körperlicher Einschränkungen und genau hier sollten neuartige Behandlungsansätze ansetzen“, so Dr. Daniel Vitt, CEO von Immunic.

Das Biotechnologieunternehmen Immunic mit Hauptsitz in New York und dem Forschungs- und Entwicklungszentrum in Gräfelfing bei München hat aktuell drei Produkte in der Entwicklung, davon zwei Substanzen – Vidofludimus Calcium und IMU-856 – in der klinischen Prüfung. Der am weitesten fortgeschrittene Produktkandidat Vidofludimus Calcium wird derzeit in zwei Phase III-Studien sowie einer Phase II-Studie zur Behandlung von schubförmiger und progressiver MS klinisch getestet.

Vidofludimus Calcium ist ein selektiver Immunmodulator, der den Transkriptionsfaktor Nuclear Receptor Related 1 (Nurr1) aktiviert, der mit direkten neuroprotektiven Eigenschaften in Verbindung gebracht wird. Zudem inhibiert Vidofludimus Calcium Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH), ein Schlüsselenzym im Stoffwechsel überaktiver Immunzellen und virusinfizierter Zellen, was mit entzündungshemmenden und antiviralen Effekten zusammenhängt.

Immunic publizierte die Ergebnisse der Phase II-Studie EMPhASIS mit Vidofludimus Calcium in schubförmig-remittierender Multipler Sklerose in Neurology® Neuroimmunology & Neuroinflammation sowie Annals of Clinical and Translational Neurology. Laut Daniel Vitt sind der nächste wichtige Meilenstein „die Daten unserer Phase II- Studie CALLIPER in progressiver MS, die wir im April 2025 erwarten“.

Ungedeckter medizinischer Bedarf
MS hat nicht nur 1.000 Gesichter, sondern unterscheidet sich auch von Beginn der Diagnose an im Krankheitsverlauf. Rund 85% der Patienten leiden zum Zeitpunkt ihrer meist in jungem Alter und häufiger bei Frauen gestellten Diagnose an der schubförmigen Form der Krankheit, bei der sich Zeiträume von geringer oder keiner Krankheitsaktivität und solche mit starken Symptomen abwechseln. Schübe können unterschiedlich lang und intensiv sein und unterschiedliche Symptome verursachen, darunter Sehstörungen, Taubheitsgefühle, oder Schwierigkeiten beim Gehen. In den schubfreien Phasen können sich die beschriebenen Symptome vollständig zurückbilden oder auch nur teilweise, so dass Einschränkungen im Laufe der Jahre akkumulieren.

Ein sehr häufiges, teilweise unterschätztes Symptom von MS ist die chronische Erschöpfung und der damit einhergehende Mangel an Energie, die über das übliche Maß hinausgehen und die Patienten massiven Einschränkungen unterwerfen. Mindestens zwei Drittel der MS-Patienten leiden an sogenannter Fatigue, die jeder dritte Patient als das belastendste Symptom angibt, vor allem in Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit und das tägliche soziale Leben. Zwar ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt, welche Ursachen die lähmende Müdigkeit hat, aber ähnlich wie bei Erschöpfungszuständen nach Virusinfektionen wird bei MS von einer ständigen Virusreaktivierung ausgegangen, hier wird Epstein-Barr-Virus (EBV) postuliert. Ein zentrales Entwicklungsziel wäre es daher, medikamentös eine Unterbrechung des Kreislaufs der andauernden Immunreaktion durch EBV zu erreichen und so die chronische Erschöpfung zu reduzieren.

Bei etwa 15% der MS-Patienten wird bereits zu Beginn der Erkrankung eine fortschreitende Verschlechterung ihres Gesundheitszustands festgestellt, ohne dass die sonst üblichen Schübe auftreten. Diese Form von MS wird als primär progressive MS (PPMS) bezeichnet. Sie betrifft häufiger Männer und beginnt typischerweise später im Leben, was ebenfalls zur Schwere des Verlaufs beiträgt. Da es aktuell kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt und die Progression so gut wie nicht kontrollierbar ist, haben Patienten mit PPMS oft eine ungünstigere Prognose und ein höheres Risiko für signifikante Beeinträchtigungen im Laufe der Zeit.

Viele MS-Patienten, die ursprünglich mit schubförmiger MS diagnostiziert wurden, kommen im Laufe ihrer Krankheitsgeschichte in eine Phase der stetigen, irreversiblen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes. Aktuell befindet sich etwa jeder dritte MS-Patient in Deutschland im Stadium der oder im Übergang zur sekundär progressiven MS. Die körperlichen oder kognitiven Einschränkungen dieser Patienten nehmen stetig zu und ihre Lebensqualität schränkt sich zunehmend ein, obwohl sie nicht mehr oder nur noch sehr selten unter Schüben leiden.

Ein Teil dieser Patientengruppe leidet unter aktiver sekundär progressiver MS, bei der zwar Krankheitsaktivität beobachtet werden kann, Schübe jedoch weiterhin, aber seltener vorkommen. Ihr körperlicher und kognitiver Gesamtzustand verschlechtert sich jedoch kontinuierlich. Zudem gibt es eine weitere Patientengruppe, die in eine nicht-aktive sekundär progressive Form von MS übergeht. In diesem Stadium sind zwar keine Hinweise auf Entzündungsaktivität zu finden, auch Schübe haben diese Patienten nicht mehr, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich jedoch kontinuierlich und unaufhaltsam. Für diese Patientengruppe ist der medizinische Bedarf besonders hoch, da der Leidensdruck durch die zunehmende Beeinträchtigung massiv ist, es jedoch aktuell keine Behandlungsmöglichkeiten gibt.

PIRA im Fokus
Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass für alle Formen von MS, egal ob sich ein Patient in der frühen, schubförmigen oder späten, progressiven Phase befindet, über die Zeit hinweg eine stetige, schleichende und oft unsichtbare Verschlechterung der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten stattfindet – die sogenannte Progression unabhängig von Schüben (PIRA, progression independent of relapse activity). Diese wird auch in Patienten beobachtet, die mit bisherigen Medikamenten behandelt werden. Während das sogenannte RAW (Relapse Associated Worsening, rückfallbedingte Verschlechterung) die Einschränkungen beschreibt, die nach einem Schub bestehen bleiben und sich nicht vollständig zurückbilden, ist PIRA gekennzeichnet durch eine langsame, aber kontinuierliche Verschlechterung der neurologischen und körperlichen Funktionen, die unabhängig von den klassischen MS-Schüben auftritt.

Diese schleichende Krankheitsprogression tritt nicht nur bei den primär oder sekundär progressiven Verlaufsformen von MS auf, sondern ist auch bereits bei Patienten mit schubförmiger MS und generell schon im sehr frühen Stadium der Krankheit zu beobachten. Auch die schubförmige Patientenpopulation erlebt im Verlauf ihrer Krankheit eine Zunahme an Beeinträchtigung, selbst wenn die gefürchteten Schübe durch wirksame medikamentöse Intervention weitgehend unterbunden werden können. Neue Daten bestätigen sogar, dass die schubunabhängige Verschlechterung des Gesundheitszustandes für etwa 50 Prozent der Beeinträchtigung in der schubförmigen Phase von MS und für 100 Prozent in der progressiven Phase von MS verantwortlich ist. Eine geeignete und zielgerichtete Therapie für diese schleichende Verschlechterung gibt es momentan noch nicht.

Nurr1 als neuartiges Zielmolekül
Ein vielversprechendes Zielmolekül für die Entwicklung neuer Therapien gegen neurodegenerative Erkrankungen, zu denen neben Alzheimer oder Parkinson eben auch MS zählt, ist der Transkriptionsfaktor Nurr1, dem neuroprotektive Eigenschaften zugeschrieben werden. Daniel Vitt erklärt: „In Mikroglia, den Immunzellen des Gehirns, führt die Aktivierung von Nurr1 zu einer Verringerung entzündungsfördernder Zytokine und blockiert die Produktion direkter neurotoxischer Substanzen. Eine erhöhte Nurr1-Aktivität in Neuronen kann direkt neuronales Überleben und Differenzierung sowie eine verbesserte Neurotransmission vermitteln.“ Nurr1’s Rolle in der Kontrolle dieser Prozesse macht es zu einem spannenden Zielprotein für therapeutische Interventionen.

Ein Blick in Immunics Zukunft
Immunic erwartet 2026 die Wirksamkeitsdaten der beiden Phase III-ENSURE-Studien in schubförmiger MS. Neben dem primären Endpunkt Zeit bis zum ersten Schub untersuchen diese beiden Studien auch den Einfluss auf die Verschlechterung der körperlichen Beeinträchtigung. Mit schubförmiger MS allein adressiert Immunic einen Markt von mehreren Milliarden US-Dollar.

Zusätzliches Potential besteht laut Vitt für progressive MS: „Sollten die für April 2025 erwarteten Daten der Phase II-CALLIPER-Studie überzeugen, könnte Immunic mit regulatorischen Behörden über eine beschleunigte Zulassung sprechen. Da es bislang nur für eine Teilindikation der primär progressiven MS ein einzelnes Medikament gibt, würde sich hier ein enormer Markt eröffnen.“

Kontakt
Jessica Breu
VP IR & Communications
Immunic Therapeutics
Lochhamer Schlag 21
82166 Gräfelfing
jessica.breu@imux.com

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