Siemens AG

Siemens kauft sich in die Wirkstoffforschung ein

Siemens und Pharma? Wer hierbei an die vielen Gerätschaften denkt, deren IT irgendwie miteinander verbunden werden soll, an Schnittstellen von Hardware und Software, vielleicht auch an die Verfahrensprozesse und die Überwachung der Automation in der Produktion, der muss sein Bild vom Traditionsunternehmen erweitern auf eine überraschend neues Feld: die Wirkstoffentwicklung selbst. Dort hat sich Siemens mit vielen Milliarden eine US-Firma gekauft, um selbst eine größere Rolle in der Pharmawelt zu spielen.

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Siemens steigt für viele überraschend ins Drug-Screening ein. Dieser strategische Schritt mutet wie ein Ausflug in unbekanntes Terrain an. Dabei hat das Unternehmen innerhalb kurzer Zeit erneut den Milliardenscheck gezückt. Nur wenige Tage nach dem Abschluss der milliardenschweren Übernahme des US-Softwarespezialisten Altair kündigte der Münchner Technologiekonzern den nächsten großen Deal an – und sorgt damit für Staunen in der Branche. Für rund 5,1 Mrd. US-Dollar übernimmt Siemens die auf die Pharmaforschung spezialisierte US-Firma Dotmatics.

Dotmatics bietet Softwarelösungen für Forschung und Entwicklung in der pharmazeutischen Industrie – ein Bereich, der bislang nicht zur typischen Siemens-Welt zählte. Der Einstieg wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich. Vorstandschef Roland Busch erklärt den Schritt mit dem strategischen Wachstumsprogramm „One Tech Company“, das den Konzern noch stärker in Richtung integrierter Software- und Technologieanbieter führen soll. Siemens wandelt sich seit Jahren weg vom klassischen Industriekonzern hin zu einem datengetriebenen Technologieunternehmen. Mehr als 35 Softwarefirmen wurden in den vergangenen 15 Jahren übernommen, der Umsatz mit digitalen Dienstleistungen stieg zuletzt auf 9 Mrd. Euro – etwa zwölf Prozent des Gesamtumsatzes. Der Anteil soll langfristig verdoppelt werden.

Nun erweitert Siemens sein Portfolio um eine völlig neue Kundengruppe: die Pharmaindustrie. Dabei geht es nicht um Medizintechnik – dieser Bereich liegt weiterhin bei der Tochter Healthineers –, sondern um den intelligenten Umgang mit biomedizinischen Forschungsdaten, also etwa Wirkstoffdatenbanken, Molekülstrukturen oder Laborautomatisierung. Reicht die Kompetenz im Datenmanagement, um in der Pharmabranche bestehen zu können? Anders als etwa in der Automatisierung oder im Energiemanagement, wo Siemens über Jahrzehnte wachsen konnte, ist die Arzneimittelentwicklung hochreguliert, wissenschaftlich komplex und tief in biomedizinischem Wissen verwurzelt. Branchenexperten sehen hier einen fundamentalen Unterschied: Datenintegration allein reicht nicht. Es braucht auch ein tiefes Verständnis für Pharmakologie, Toxikologie, klinische Entwicklung und regulatorische Anforderungen.

Dotmatics bringt zwar das nötige Branchen-Know-how mit, doch die Integration in einen Großkonzern wie Siemens gilt als kulturelle und strategische Herausforderung. Erfahrungsgemäß sind solche Fusionen kein Selbstläufer, zumal das Geschäftsmodell von US-Amerikaner stark auf Forschungspartnerschaften und agile Softwareentwicklung zugeschnitten ist – ein starker Kontrast zur Siemens-DNA.

Dass Siemens diesen Schritt dennoch wagt, hängt auch mit internen Entwicklungen zusammen. Die starke Abhängigkeit vom Automobilsektor, die jüngst zu Stellenstreichungen in der Sparte Digital Industries führte, macht Diversifikation notwendig. Gleichzeitig steht die Mehrheitsbeteiligung an Siemens Healthineers zur Disposition – ein Verkauf von Aktien der abgespaltenen Tochtergesellschaft soll die Bezahlung des Deals ermöglichen. Bei einigen Hundert Millionen Jahresumsatz von Dotmatics ist der Aufschlag sehr deutlich, aber vielleicht dient er zugleich als Signal an Investoren und andere Marktteilnehmer in diesem Segment: Siemens bleibt wachstumsorientiert, offen für neue Felder – auch abseits klassischer Industrielogik.

Mit dem Einstieg in die Forschungssoftware für Pharma wagt Siemens einen mutigen Schritt, der sowohl strategische Chancen als auch kulturelle Risiken birgt. Die Frage ist nicht nur, ob Siemens Daten verarbeiten kann, sondern ob es auch den biomedizinischen Kontext versteht, in dem diese Daten entstehen und genutzt werden. Interessant könnte dabei ein Vergleich mit der Hamburger Firma Evotec werden, die aus der medizinischen Forschung kommend zu einem datengetriebenen Unternehmen der Wirkstoffforschung geworden ist. Siemens betritt das gleiche Spielfeld nun von der Informatik- und Datenseite.

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