MDR: Der große Knall kommt

Viele Unternehmen arbeiten ihre MDR-Anforderungen ab. Doch es wächst die Sorge, was nach dem Ablauf vieler MDD-Verlängerungen ab 2023 passiert. Auch Ärzte sind alarmiert.

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Wer sich umhört zur EU-MDR trifft vielerorts auf die betriebsamen, die vor allem abarbeiten: Das Portfolio durchgehen, sich mit Benannten Stellen auseinandersetzen, neue Dokumentationen aufsetzen. Sie wollen die EU-MDR-Anforderungen erfüllen und wühlen sich durch die Details. Die Auftragsbücher der Berater sind bis zum Platzen gefüllt.

VR-Produkt zertifiziert
Belohnt werden diejenigen, die den Umbau zur EU-MDR aktiv und rechtzeitig geplant haben. Vor allem junge Unternehmen und Start-ups, die erste Produkte im Markt plazieren wollen, vermelden immer wieder freudestrahlend, wenn der Zertifizierungsprozess geschafft ist. So auch das Team der Heidelberger living brain. Mitte Oktober konnte das Start-up die CE-Zertifizierung erfolgreich in den Händen halten – als erster Anbieter VR-basierter kognitiver Rehabilitation in Deutschland. Die Anwendung teora mind zum Einsatz in der neurologischen Rehabilitation ist ein Klasse-2a-Produkt. Die Heidelberger haben ihren Zertifizierungsprozess im Oktober 2020 begonnen, noch mitten in der Coronapandemie – aber ohne Verzögerungen erleben zu müssen. „Wir sind froh, mit dem TÜV Süd einen verlässlichen Partner gefunden und unsere Audits erfolgreich gemeistert zu haben. Das implementierte Qualitätsmanagementsystem sichert die hohen Standards unserer Produktentwicklung“, sagt CEO und Mitgründerin Barbara Stegmann.
Die Zertifizierung ebnet dem Unternehmen nun den Weg zum Markteintritt in Deutschland und Europa. „Wir sind stolz darauf, dass wir zu den ersten in unserem Feld gehören, die die Zertifizierung erhalten haben. Zusammen mit den gerade veröffentlichten klinischen Daten sehen wir uns gewappnet für die Einführung von teora mind auf dem deutschen Markt.“, unterstreicht Mitgründer und CSO Julian Specht. Teora mind ist das erste Produkt von living brain zur kognitiven Rehabilitation aus der Produktlinie teora zur Reha bei Erkrankungen des Gehirns. Neurowissenschaften, Psychologie und VR werden in teora mind vereint, um Patienten die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern – mit digitalen und datengestützten Reha-Anwendungen. Die Technologie wird derzeit in Rehabilitationskliniken und Reha-Zentren bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen eingesetzt.

Zeit wird knapp
Auch andere Firmen sind auf gutem Weg, ihre Zertifizierung nach EU-MDR zu erhalten. Die ebenfalls in Heidelberg angesiedelte Precisis AG erwartet ihr Zertifikat für Frühjahr 2022 und bereitet sich mit frischem Kapital auf den Markteintritt vor (siehe Interview hier mit CEO Angela Liedler) Viel zu oft gibt es aber auch noch diejenigen, die sich auf ihren verlängerten MDD-Zertifikaten ausruhen und glauben, dass es noch genug Zeit für die Umstellung gibt. „Dem ist aber nicht so“, warnt etwa Karlheinz Kohl von der DQS Medizinprodukte GmbH, einer Benannten Stelle mit Sitz in Frankfurt am Main, die mehr als 1.200 Kunden betreut. Aktuell versucht Kohl seinen Kunden vor allem klarzumachen, dass es zeitlich knapp wird, wenn man erst 2022 oder 2023 die Überführung von MDD-Zertifikaten in den EU-MDR-Rahmen startet. „Wir haben allein bei unseren Bestandskunden noch eine viel zu große Anzahl an Produkten, die das betrifft. Da wird der große Knall noch kommen“, ist sich Kohl sicher.

Einen solchen Knall erwartet auch Michael Maier, als Senior Partner bei der Regulatory-Beratung medidee aktiv. „Wir sind sehr unzufrieden, wie es aktuell mit den Prozessen läuft. Gerade für Bestandsprodukte, die schon jahrzehntelang klinisch eingesetzt werden, gibt es nun irre viele Parameter und Datenabfragen die unverhältnismäßig viel Aufwand bedeuten“, berichtet er. Auch von Seiten der Benannten Stellen gebe es kaum Flexibilität mehr, hinzukommt das viele neue, aber eben doch auch unerfahrene Personal bei TÜV & Co – mit zum Teil nur geringen Detailkenntnissen in einzelnen Produktfragen, wodurch Abstimmungsprozesse laut Meier im Detail dann komplizierter und umständlicher als früher werden. „Leider gibt es keine Schiedsinstanz zwischen Benannter Stelle und Kunden. Ebenfalls nicht förderlich ist die Tatsache, dass wir es im Moment –auch aufgrund der begrenzten Anzahl überhaupt zugelassener Benannter Stellen –mit einem Quasimonopol zu tun haben“, so Meier.

Abkehr vom EU-Markt
Mit Sorge blickt er auf die Tatsache, dass der europäische Heimatmarkt – sonst für viele Unternehmen wichtiger Pilotmarkt auch für Innovationen – immer unattraktiver oder gänzlich gestrichen wird. „Wir schicken auch inzwischen viele direkt zur FDA in die USA, weil die Prozesse dort einfach klarer und besser abzuwickeln sind“, sagt Meier. Auch für so manchen Innovator ist dieser Weg inzwischen der einzig gangbare, wie das Beispiel des Tuttlinger Wirbelsäulenimplantat-Spezialisten Ocean Spine GmbH zeigt. „Als europäisches Unternehmen tut es mir im Herzen weh, aber als Entrepreneur und Ökonom muss ich mich bei meinem Neuprodukt zunächst für die USA als ersten Markt entscheiden“, berichtete Gründer und Geschäftsführer Guntmar Eisen dem Publikum beim Innovation Forum Medizintechnik, das Mitte Oktober in Tuttlingen stattfand.

Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht von ungefähr, dass der Verband BVMed in seiner jüngsten Herbstumfrage die EU-MDR nach wie vor als größtes Hemmnis für die Branche einstuft. Als Hürde wird dabei vor allem die Pflicht zu umfassenden klinischen Daten und die längeren Konformitätsbewertungszeiten durch Ressourcendefizite bei den Benannten Stellen genannt. 70% der BVMed-Unternehmen sprechen sich für eine vereinfachte Neuzertifizierung der bewährten Bestandsprodukte unter der MDR aus. Falls sich am aktuellen Zustand nichts ändert, rückt ein Produkt-engpass immer näher, der auch schon jetzt in den Kliniken sichtbar ist.

Ärzteschaft einbinden
Beim Innovation Forum berichtete Henry W. S. Schroeder, Universitätsprofessor und Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie der Universitätsmedizin Greifswald, von ersten Bestandsprodukten, die nicht mehr verfügbar sind – angefangen bei einfachen Kanülen bis hin zu Hochleistungsinstrumenten. „Ich sehe die große Gefahr, dass Innovationen, aber auch die Produktpalette, die wir bereits haben, deutlich reduziert werden“, so Schroeder. Weder er noch viele andere Experten glauben jedoch, dass der Politik bereits klar ist, welche Engpässe wirklich drohen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund will sich auch die Medical Mountains GmbH noch mehr dafür einsetzen, die Ärzteschaft in diese Kommunikation einzubinden. „Wir müssen einfach noch deutlicher machen, was es heißt, wenn Bestandsprodukte einfach nicht mehr verfügbar sind. Durch die MDD-Verlängerungen ist es jetzt noch nicht in der Masse akut, aber das könnte sich ab 2023 dramatisch ändern“, so Yvonne Glienke und Julia Steckeler, die Geschäftsführerinnen der Medical Mountains GmbH.

Beide zeigten sich beim Innovation Forum in Tuttlingen aber zuversichtlich, dass es gerade für die Bestandsprodukte eine Aussicht auf vereinfachte Regelungen gibt. „Wir arbeiten daran hinter den Kulissen und stoßen auf viel Verständnis.“ Darüber hinaus steht die durch das Cluster ins Leben gerufene Med Alliance BW den Unternehmen nach wie vor zur Seite. „Es ist toll zu sehen, wie sich hier eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit entwickelt hat, und dass dieses Angebot inzwischen auch schon überregional Beachtung findet“, so Steckeler.

EU-MDR- Kompetenzzentrum arbeitet auf Hochtouren
Derweil bemühen sich viele Akteure um Aufklärung und Unterstützung. Das neue EU-MDR-Kompetenzzentrum am NMI in Reutlingen arbeitet etwa auf Hochtouren, um in einer Datenbank möglichst alle relevanten Dienstleister und Services sichtbar zu machen. Bis Januar soll ein erster Prototyp stehen. Das Zentrum richtet sich vor allem an Innovatoren im Mittelstand. „Wir sehen, dass neue Produkte aktuell eher auf der Strecke bleiben. Daher bieten wir hier gezielt Unterstützung an und suchen aktuell Firmen aus Baden-Württemberg, mit denen wir erste beispielhafte Projekte umsetzen können“, sagt Katja Schenke-Layland, Direktorin und Stiftungsvorstand des NMI.

Der Text ist in der Herbst-Ausgabe von medtech zwo 2021 erschienen. Das Heft kann hier als PDF heruntergeladen werden.

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