Die Niere neu im Fokus der Pharmaindustrie
Aktuell machen Bayer und Novartis Schlagzeilen in Bezug auf klinische Studien und ihre Entwicklungen bei Nierenerkrankungen. Es winkt ein Milliardenmarkt, da fast 10% der Weltbevölkerung von chronischen Nierenleiden betroffen sind, häufig in Zusammenhang mit Herz- oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Damit eröffnet sich erfolgreichen Wirkstoffen ein breites Indikationsfeld über all diese Krankheitssymptome. Doch einfach sind Zulassungen in dem komplexen Multi-Organzusammenhang nicht, wie Bayer bereits feststellen musste.
Krebs, Herz-Kreislauf, Diabetes und einige andere Erkrankungen stehen stark in der öffentlichen Wahrnehmung und neu Entwicklungen finden viel Aufmerksamkeit. Ganz anders steht es um ein lebenswichtiges Organ: die Niere. Sie findet meist nur dann Beachtung, wenn sie ernsthafte Probleme bereitet oder schon unwiederbringlich gestört ist, so dass nur noch Dialyse oder Transplantation helfen.
Nierenerkrankungen sind ein bedeutendes Gesundheitsproblem, und die Pharmaindustrie hat wieder begonnen, verstärkt in diesem Bereich zu forschen. Die chronische Nierenerkrankung (CKD) wird weitgehend unterschätzt. Sie ist jedoch eine fortschreitende Erkrankung, von der mehr als 10% der Weltbevölkerung betroffen sind, das heißt insgesamt etwa 850 Millionen Menschen. Es handelt sich also um eine häufige und potentiell tödliche Erkrankung, die neue Therapieoptionen sucht. In Deutschland alleine zählt man rund 9 Millionen Nierenerkrankte, gleichermaßen Frauen wie Männer.
Aktuell stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung, die zur Behandlung von Nierenerkrankungen eingesetzt werden. Dennoch ist der Bedarf weiterhin hoch, da die unterschiedlichen Ansätze bei zugelassenen Medikamenten oft nur in Subpopulationen eine gewisse Wirkung zeigen:
- ACE-Hemmer und Angiotensin-II-Rezeptorblocker (ARBs): Die Medikamente helfen, den Blutdruck zu senken und die Nierenfunktion zu schützen, insbesondere bei Patienten mit Diabetes.
- Diuretika: Sie werden verwendet, um überschüssige Flüssigkeit aus dem Körper zu entfernen und den Blutdruck zu kontrollieren.
- SGLT2-Hemmer: Diese neueren Medikamente, ursprünglich zur Behandlung von Diabetes entwickelt, haben sich als vorteilhaft für die Nierenfunktion erwiesen und werden zunehmend bei chronischer Nierenerkrankung eingesetzt. SGLT2-Inhibitoren hemmen die Rückresorption von Glukose im proximalen Tubulus der Niere und senken durch eine vermehrte Glukoseausscheidung die Blutglukose.
- Mineralokortikoid-Rezeptorantagonisten (MRAs): Die Medikamente können ebenfalls zur Behandlung von Herzinsuffizienz und zur Verbesserung der Nierenfunktion eingesetzt werden.
Aktuell machen die Bayer AG und die Novartis AG Schlagzeilen in Bezug auf klinische Studien und ihre Entwicklungen. Einige der vielversprechendsten Ansätze umfassen Medikamente, die spezifische Signalwege in den Nieren ansprechen, um die Progression der Erkrankung zu verlangsamen oder auch Kombinationstherapien. Hierbei werden Kombinationen bestehender Medikamente untersucht, um synergistische Effekte zu erzielen. Auch mit Gentherapie und regenerativer Medizin versucht man, gegen eine chronische Nierenschädigung vorzugehen. Diese Ansätze zielen darauf ab, geschädigtes Nierengewebe zu reparieren oder zu regenerieren. Doch auch RNA-Therapeutika sollen die Schädigung kausal bekämpfen.
Herz-Nieren-Achse
Die Nierenschädigung kann eine eigene Krankheit sein, ist jedoch oft ein (schwerwiegendes) Begleitphänomen von Erkrankungen des Herzens oder anderer Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Das macht die Entwicklung von neuen Wirkstoffen einerseits schwierig, da die geeigneten primären oder sekundären Endpunkte einer klinischen Studie nicht so einfach festzulegen sind, wenn multimorbid Erkrankte im Zuge der Behandlung ihrer anderern Erkrankungen auch andere Medikamente erhalten, oder dort sogar ein leitliniengerechter Wechsel der Medikamention innerhalb einer Studienrekrutierung erfolgt. Andererseits kann ein Wirkstoff, der beispielsweise die Herzfunktion verbessert, positiv auf die Nierenfunktion wirken und damit auch eine Indikationserweiterung für den Hersteller und die Behandlungssituation ergeben. Ähnliches erhoffen sich die Pharmafirmen mit GLP-1-Wirkstoffen, die mit der Beeinflussung des Zuckerstoffwechsels in vielerlei Krankheitsgebieten Verbesserungen sehen oder versprechen und damit solche Wirkstoffe möglichst breit positionieren wollen. Dies reicht nun sogar schon bis hin zu Schlaganfall und Alzheimer-Erkrankungen.
Das mag auch die Hoffnung bei den Pharmafirmen sein, die ursprünglich nach Wirkstoffen gegen CKD suchten: dass auch dort eine größere Breitenwirkung auf weitere Erkrankungen in den klinischen Studien sichtbar wird.
Das alles macht jedoch einen Zulassungsprozess in diesem Sektor nicht unbedingt einfacher, wie sich am Beispiel Fineronon, einem neuen Wirkstoff aus der Klasse der MRA zur Behandlung von chronischer Nierenerkrankung bei Typ-2-Diabetes im Stadium 1 und 2 mit Albuminurie von Bayer in den vergangenen Monaten zeigte. Das Medikament erhielt 2022 die Zulassung und befand sich im folgenden Jahr in der Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der das IQWIG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) mit der Nutzenbewertung beauftragte. Im vorher erwähnten multifaktoriellen Zusammenspiel der Herz-Nieren-Achse ist die Auslegung der Studiendaten komplex und die Bewertung der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) häufig Gegenstand von Diskussionen zwischen den Behörden und den Unternehmen. So sprach das IQWIG dem ersten nichtsteroidalen MRA Fineronon den Zusatznutzen als „nicht belegt“ ab, der G-BA erteilte jedoch nach langer Expertenanhörung einen amtlichen Zusatznutzen für die frühen Stadien der CKD-Erkrankung. Da gleichzeitig keine Empfehlung für eine Kombination mit anderen Behandlungsschemata gegeben wurde, sondern diese sogar amtlich zurückgezogen worden ist, haben wohl weiterhin die gut eingeführten SGLT2-Hemmer die Nase vorn als erste Option und Fineronon es damit nochmals schwerer (da eine Kombination ausdrücklich nicht empfohlen wird) einen Teil des Behandlungsmarktes zu erobern.
Bayer und Novartis in Position
Doch Bayer führt noch weitere Wirkstoffe in seiner Nierenpipeline und will auf diesem Segment nicht klein beigeben. Vor wenigen Tagen meldeten die Leverkusener den Start der ALPINE-1-Studie, einer klinischen Phase I-Studie mit BAY3283142, einem löslichen Guanylatcyclase (sGC)-Aktivator, bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung. Die Studienergebnisse sollen belegen, dass der sGC-Aktivator eine mögliche Behandlungsoption für kardiovaskuläre Erkrankungen darstellt und versucht, damit am Herzen anzusetzen und die Nierenfunktion positiv zu beeinflussen. Der Wirkstoff stellt einen innovativen Ansatz zur Modulation des Stickstoffmonoxid (NO)-löslichen Guanylatzyklase (sGC)-Zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP)-Stoffwechselwegs dar und weist laut Bayer damit „ein breites Behandlungspotential bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf“.
Dass die Nierenerkrankungen mit der hohen Zahl von Erkrankungen in der Weltbevölkerung ein interessantes Feld für die Pharmaindustrie sind, zeigte auch die milliardenschwere Übernahme der US-Firma Chinook Therapeutics durch die Schweizer Novartis. 3,2 Mrd. US-Dollar zahlten die Schweizer im vergangenen Jahr für die Akquisition. Chinook aus Vancouver, British Colombia (USA), hat als Investoren unter anderem Versant Ventures an Bord. Mit diesen und weiteren hatte der Entwickler von Nierenmedikamenten im Jahr 2022 die in Shanghai lokalisierte SanReno Therapeutics aufgelegt, die wie das Mutterunternehmen mit einem eigenen Wirkstoff bereits in die Phase III vorgedrungen ist. All das hatte sich mit dem Aufkauf von Chinook auch Novartis als Teileigner ins Portfolio geholt. Doch damit nicht genug. Novartis und Versant Ventures haben nun gerade ein neues Gemeinschaftsunternehmen gegründet, Borealis Biosciences, das mit einer Serie A-Finanzierung von 150 Mio. US-Dollar aus der Taufe gehoben wurde, um RNA-Therapeutika gegen Nierenerkrankungen zu entwickeln. In Branchenkreisen wird Borealis schon als „Chinook 2.0“ bezeichnet. Während sich Chinook, und damit nun der Eigner Novartis, auf Wirkstoffe gegen die seltene Autoimmunerkrankung Immunglobulin-A-Nephropathie konzentrierten, will man mit dem neuen Unternehmen an die kausalen Ursachen der Nierenschädigungen herangehen. Bisher seien viele Zielmoleküle der Nierendefekte für traditionelle Herangehensweisen nicht erreichbar, so ein Vertreter von Versant Ventures. Durch die langjährige Vorarbeit von Chinook gäbe es aber eine Liste von solchen Targets, die man nun versuche, mit anderen Technologien zu adressieren.
Die Niere hat damit in kurzer Zeit das verstärkte Interesse der Pharmaindustrie (wieder)gefunden.