
Immunic: „Vergessen Sie den primären Endpunkt“
Primärer oder sekundärer Endpunkt? Und womit ist dem Patienten mehr gedient, etwa in einer Indikation, in der therapeutische Optionen Mangelware sind? Die Daten aus einer Phase II-Studie des Wirkstoffs Vidofludimus Calcium der Münchner Immunic AG zeigen ein zweigeteiltes Bild. In der Indikation der progredienten (kontinuierlich fortschreitenden) Multiplen Sklerose (PMS) wurde ein vielleicht im Studiendesign überbetonter primärer Endpunkt verfehlt, jedoch der sekundäre Endpunkt der Verlangsamung des Krankheitsfortschritts erreicht. Das Unternehmen setzt auf die weitere klinische Entwicklung in dieser Subindikation, da in ihrer Auslegung für Patienten ein klarer Vorteil gezeigt werden konnte.
Der Biotech-Spezialist Immunic hat in einer Phase II-Studie mit seinem oralen Wirkstoffkandidaten Vidofludimus Calcium (IMU-838) bei Patienten mit progredienter Multipler Sklerose (PMS) den primären Endpunkt verfehlt. Das solle aber niemanden beeindrucken, so der CEO in der nachgeschalteten Investorenkonferenz. Das Unternehmen sieht ausreichend klinisches Potential, um die Entwicklung fortzusetzen und auf die Ergebnisse der laufenden Phase III-Studie bei der schubförmigen Multiplen Sklerose im kommenden Jahr zu hoffen.
In der rund zweijährigen Behandlung im Rahmen der Phase II-Studie CALLIPER mit 467 Patienten zeigte IMU-838 nur einen geringen Vorteil von 5 % gegenüber Placebo bei der Reduktion des jährlichen Verlusts an Hirnvolumen – dem primären Studienziel. Die statistische Signifikanz dieser Abweichung wurde nicht ausgewiesen. Immunic-CEO Dr. Daniel Vitt äußerte sich kritisch zum Studiendesign: „Die Gesamtveränderung des Hirnvolumens ist inzwischen ein veralteter Marker.“ Dieser sei durch frühere klinische Studien in diesem Gebiet aber auch in das damalige Protokoll der Studie aufgenommen worden, obwohl mittlerweile die Aussagekraft des Markers stark diskutiert werde.
Daher betont das Unternehmen sehr viel stärker die positiven Signale der aktuellen Studienergebnisse bei sekundären Endpunkten. Besonders hervorzuheben sei, dass das Risiko einer über 24 Wochen bestätigten Behinderungsverschlechterung bei mit IMU-838 behandelten Patienten insgesamt um 20 %, bei Patienten mit primär progredienter MS (PPMS) sogar um 30 % gegenüber Placebo gesenkt werden konnte
Vitt betonte die klinische Relevanz gerade für die PPMS-Subgruppe: „Dieser Effekt könnte zukünftig als primärer Endpunkt in einer Phase III-Studie dienen.“ Die Sicherheit von IMU-838 wurde als vergleichbar mit Placebo eingestuft. Der Wirkstoff hat bereits eine lange Karriere in der klinischen Entwicklung hinter sich und bei mittlerweile tausenden von Patienten Daten über die gute Verträglichkeit und Sicherheit ergeben. Weitere Ergebnisse und detaillierte Auswertungen der aktuellen Studiendaten stehen noch aus.
Analysten des Investmenthauses William Blair, die das Unternehmen seit Kurzem intensiver beobachten, aber auch andere wie Leerink, Brookline und weitere bewerteten die Ergebnisse trotz der verfehlten Hauptzielsetzung positiv. Vidofludimus Calcium zeige im Vergleich zu zugelassenen MS-Therapien wie Ocrevus (Roche) und Mayzent (Novartis) ein konkurrenzfähiges Nutzen-Risiko-Profil – insbesondere in der schwer behandelbaren PPMS-Population.
Die Börse zuckt in alle Richtungen
Allerdings reagierte die Börse negativ: Die Immunic-Aktie fiel nach Bekanntgabe der Daten um rund 30 %, was Beobachter vor allem auf Zweifel an der Finanzierungsfähigkeit der weiteren klinischen Entwicklung zurückführen. Der Kurs hat mittlerweile wieder ins Positive gedreht und liegt nun knapp über der 1-Dollar-Marke. Zum Stichtag 31. Dezember verfügte Immunic über 35,7 Mio. US-Dollar, was nur noch eine Finanzierung bis ins dritte Quartal 2025 sichert. Doch durch eine tranchierte Finanzierungsrunde, die Anfang 2024 geschlossen wurde (eine PIPE-Finanzierung, private investment in public equity), stehen dem Unternehmen nach eigenen Angaben zusätzliche hohe Millionenbeträge zum Abruf zur Verfügung, so dass der von weiteren Analysten vermutete Bedarf an strategischen Partnern oder zusätzlichem Kapital nicht ganz so drängend sein sollte.
Ob der Wirkstoff trotzdem in dieser Subindikation der MS eine Zukunft hat, bleibt abzuwarten. Umso mehr Gewicht erhält damit die parallel laufende Entwicklung von IMU-838 in zwei Phase III-Studien zur schubförmig verlaufenden MS (RMS). Hier hatte der Wirkstoff in einer vorangegangenen Phase II-Studie bereits eine signifikante Reduktion von Hirnläsionen gezeigt. In einer Zwischenanalyse des Phase III-Programms im vergangenen Herbst hatte ein unabhängiges Komitee empfohlen, keine Änderungen vorzunehmen. Dies deutet zumindest darauf hin, dass der dort verwendete primäre Endpunkt des Zeitpunkts bis zum Wiederauftreten eines MS-Schubes als weiterhin sinnvoll angesehen wird.
Multiple Sklerose ist eine Krankheit mit unterschiedlichen Entwicklungswegen. Die meisten MS-Patienten leiden an der schubförmig verlaufenden Form. Dabei treten Symptome wie Taubheitsgefühle, Müdigkeit, Sehstörungen oder Konzentrationsprobleme in unregelmäßigen Schüben auf. Bei der progredienten MS hingegen verschlimmern sich die Beschwerden schrittweise und dauerhaft, Schübe sind seltener oder treten gar nicht auf.
Patientensicht: jede Form von Verlangsamung der Verschlechterung hilft
Aus der schubförmigen MS kann sich im Verlauf eine sekundär progrediente entwickeln. Für diese Subgruppe der Erkrankten ist derzeit keine Therapieoption verfügbar. Etwa 15 % der MS-Erkrankten erhalten bereits zu Beginn die Diagnose primär progrediente MS, also ohne vorangehende Schübe. Die Schübe werden mit einer wiederkehrenden Attacke des Immunsystems auf Nervenzellen in Zusammenhang gebracht, während für die progrediente MS ein kontinuierlicher Verlust der die Neuronen umgebenden Myelinscheide als Ursache angenommen wird. Der neuroprotektive Wirkmechanismus von Vidofludimus Calcium, der seit einiger Zeit vom Unternehmen proklamiert wird, sollte daher in dieser Patientengruppe eine Verlangsamung des Krankheitsfortschrittes ergeben. Die Studie bietet dazu durchaus Anhaltspunkte, die nun jedoch durch den verpassten primären Endpunkt in den Hintergrund treten könnten. Für den Patienten macht eine solche Verlangsamung des Krankheitsfortschritts jedoch einen großen Unterschied.
Das betont auch CEO Daniel Vitt gegenüber transkript.de: „Die in unserer Phase II-CALLIPER-Studie beobachtete 30-prozentige Risikoreduktion der Behinderungsprogression in Patienten mit primär progredienter MS ist ein außergewöhnliches Ergebnis und übertrifft bisherige Daten vergleichbarer Studien. Diese Resultate stärken unsere Überzeugung, Vidofludimus Calcium als potentielle neuroprotektive Therapie für diese Patientenpopulation in einem Phase III-Programm weiterzuentwickeln.“ Man müsse zwischen den Patientengruppen mit einem Krankheitsverlauf unter stärkerer Beteiligung des Immunsystems und den regelrechten Attacken auf das Nervensystem und denjenigen, die sich ohne solche durch Immunsuppressiva kontrollierbaren Vorgänge kontinuierlich verschlechtern, klar unterscheiden. „Besonders bemerkenswert ist die konsistente Aktivität von Vidofludimus Calcium in Patienten ohne entzündliche Läsionen“, so Vitt. „Das ist eine Population, die von bestehenden MS-Therapien kaum profitiert. Die CALLIPER-Daten deuten auf einen neuartigen therapeutischen Ansatz zur Verlangsamung neurodegenerativer Prozesse bei progressiver MS hin.“