
Neue operative Realität für Deutschlands Gesundheitsversorgung!
Die Diskussion, die Mitte Dezember in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zum Thema datengetriebene Diagnostik stattfand, zeigte, dass es nicht an Erkenntnissen mangelt, sondern dass fundiertes Forschungswissen, politische Ambition und operative Technologie-Realität im deutschen Gesundheitswesen endlich zusammengebracht werden müssen. Ein Zwischenruf von Prof. Dr. med. Dr. phil. Torsten Haferlach, Gründer und Geschäftsführer MLL Münchner Leukämielabor
Die Diskussion Mitte Dezember in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, co-gehostet vom in Sachen Big-Data-Verwertung durchaus umtriebigen Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention, zur Frage „What is missing from Germany’s approach to data-driven diagnostics?“ war in vielerlei Hinsicht symptomatisch und lehrreich. Nicht, weil es an Erkenntnissen fehlte, im Gegenteil. Sondern weil sich erneut zeigte, wie wichtig es ist, endlich fundiertes Forschungswissen, politische Ambition und operative Technologie-Realität im deutschen Gesundheitswesen zusammenzubringen.
Der internationale Vergleich, etwa mit Finnland, macht diese Kluft besonders deutlich. Dort wurde mit dem Secondary Use Act früh anerkannt, dass Gesundheitsdaten kein Nebenprodukt, sondern eine systemische Ressource moderner Versorgung sind. Klare Zuständigkeiten, zentrale Genehmigungsstrukturen und sichere Analyseumgebungen haben dort ein ausbaufähiges Betriebsmodell geschaffen, das Nutzung ermöglicht, ohne Vertrauen zu verspielen (Sprecher Juhani Knuuti lieferte die Einblicke). Trotz allem Für und Wider: Eine Blaupause, die funktioniert! Deutschland hingegen diskutiert noch immer vor allem über Zuständigkeiten, Risiken und Einzelfragen und verliert dabei Zeit. Diese Verzögerung ist kein technisches Problem, sie ist (noch) Ausdruck einer Haltung.
Standards sind Machtfragen
Interoperabilität wird hierzulande häufig als technische Detailfrage behandelt. Tatsächlich ist sie eine politische und ökonomische Machtfrage, wie die Süddeutsche Zeitung neulich trefflich analysierte. Wer Standards setzt, bestimmt, welche Daten anschlussfähig sind, welche Akteure teilnehmen können und wo Wertschöpfung entsteht. Europas strukturelle Schwäche liegt nicht im Mangel an Daten, sondern in der Fragmentierung ihrer Nutzung.
Nationale Sonderwege, freiwillige Standards und sektorale Abgrenzungen verhindern genau das, was datengetriebene Diagnostik voraussetzt: verlässliche, semantisch einheitliche und sektorenübergreifende Strukturen. Solange Interoperabilität als Projekt verstanden wird – und nicht als verpflichtende Infrastruktur – bleibt sie Stückwerk. Und Stückwerk skaliert nicht.
KI ist kein Bürohilfsmittel
Parallel dazu zeigt der jüngste OpenAI-Bericht sehr klar, wie schnell sich technologische Führungspositionen verfestigen. Künstliche Intelligenz (KI) ist längst nicht mehr nur ein Werkzeug zur Effizienzsteigerung oder Textgenerierung. Sie verändert Entscheidungsarchitekturen, Wissenshierarchien und Innovationsgeschwindigkeit. Wer diese Systeme kontrolliert, kontrolliert mittelfristig auch die Regeln ihrer Anwendung.
Übertragen auf das Gesundheitswesen heißt das: Ohne hochwertige, strukturierte und verknüpfbare Daten bleibt KI ein Demonstrationsobjekt, aber kein dringend benötigter, integraler Bestandteil klinischer Entscheidungsprozesse. Deutschland läuft Gefahr, sich mit regulatorischer Vorsicht selbst aus dieser Entwicklung herauszunehmen, während andere Länder operative Erfahrung, Lernkurven und Skaleneffekte aufbauen.
Versorgung ist kein Sparposten
Die jüngste Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat vor einer Bagatellisierung der Versorgung gewarnt. Dieser Hinweis ist zentral, gerade im Kontext datengetriebener Medizin. Der größte Teil relevanter Gesundheitsdaten entsteht nicht in den wenigen, staatlich geförderten Leuchtturmprojekten, sondern in der ambulanten Versorgung: longitudinal, patientennah, vielfach auch hochspezialisiert. Gleichzeitig ist genau dieser Bereich digital am schwächsten angebunden.
Wer hier spart, fragmentiert oder verzögert, erzeugt systematisch blinde Flecken. Intelligente Diagnostiksysteme, die diese Realität nicht abbilden, bleiben unvollständig und riskieren Fehlsteuerung statt Präzision.
Strategien ohne Betriebssystem bleiben Papier
Die neue, auf Patientenzentrierung, digitale Tools und Effizienz fokussierende Digitalstrategie des GKV-Spitzenverbands; die potentielle neue Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM als zentraler Zugangsknoten für Gesundheitsdaten gegen das bisherige Silowesen; der langsame, aber stetige Aufbau des Europäischen Gesundheitsdatenraums EHDS, bei dem Industrie und Gesundheitsministerium mehr mitgestalten wollen: All diese Initiativen weisen in die richtige Richtung.
Entscheidend wird jedoch sein, ob sie in ein nutzbares Betriebssystem übersetzt werden. Ein System mit klaren Zugangsregeln, verlässlichen Zeitachsen, sicheren Analyseumgebungen und klinisch belastbarer Governance. Datenqualität, Provenienz und Nachvollziehbarkeit sind keine akademischen Anforderungen. Sie entscheiden darüber, ob Ärztinnen und Ärzte, und damit deren Patienten Ergebnissen vertrauen oder sie ignorieren. Ohne diese Qualität wird KI nicht akzeptiert, egal wie ausgefeilt die Modelle sind.
Europas Gesundheitsversorgung gestalten – nicht verwalten
Der EHDS bietet die Chance, europäische Akzente zu setzen. Doch dazu braucht es mehr als formale Umsetzung. Deutschland sollte diese Entwicklung aktiver mitgestalten – nicht als Bremser, sondern als Impulsgeber. Eigene Lösungen, kompatibel mit europäischen Rahmenwerken, aber operativ ambitioniert. Wer nur verwaltet, verliert Gestaltungsmacht. Bitte nicht die nächste Insellösung.
Gleichzeitig sind die Warnungen von KI-Pionieren wie Yoshua Bengio ernst zu nehmen. Die Sorge, Kontrolle über hochentwickelte Systeme zu verlieren, ist berechtigt. Aber sie darf nicht zur Legitimation von Stillstand werden. Verantwortung entsteht nicht durch Vermeidung, sondern durch transparente Regeln, klare Zuständigkeiten und praktische Erfahrung – zudem, wie stets in der Geschichte, durch ein klares Verstehen und Beherrschen der angewandten Technologien.
OECD: Fähigkeiten entscheiden, nicht Absichtserklärungen
Besonders deutlich wird diese Schieflage im jüngsten OECD AI Capability Indicators Technical Report. Die OECD verschiebt darin bewusst den Fokus weg von abstrakten Strategien, hin zu messbaren Fähigkeiten. Entscheidend ist nicht, ob ein Land über KI spricht oder Leitlinien formuliert, sondern ob es real über Datenzugang, Rechenkapazitäten, qualifiziertes Personal, institutionelle Lernprozesse und funktionierende Governance-Strukturen verfügt.
Genau hier liegt Deutschlands strukturelles Problem. Wir investieren viel in Regulierung, aber vergleichsweise wenig in die tatsächlichen Fähigkeiten, KI verantwortungsvoll und wirksam einzusetzen. Im Gesundheitswesen bedeutet das: fehlende interoperable Datenräume, unzureichende Sekundärnutzungsmodelle, langsame Genehmigungsprozesse und eine fragmentierte Infrastruktur. Die OECD-OCDE macht unmissverständlich klar, dass sich technologische Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Vorsicht allein sichern lässt, sondern durch die Fähigkeit, Systeme real zu betreiben und weiterzuentwickeln.
Vom Projekt zur Infrastruktur
Mein Fazit aus der Big Data for Better Healthcare-Konferenz ist deshalb pragmatisch: Deutschland braucht nicht nur weitere einzelne Pilotprojekte. Es braucht eine nationale Infrastruktur- und Governance-Ebene für datengetriebene Diagnostik – unspektakulär, belastbar, skalierbar. Eine Systematik, die Nutzung ermöglicht, ohne Vertrauen zu gefährden. Die „spannend“ im Nutzen und „langweilig“ beim Betrieb ist – im besten Sinne des Wortes, weil sie einfach funktioniert.
Erst dann wird aus Big Data Versorgung. Und erst dann aus KI ein klinisch relevantes Werkzeug zum Nutzen der Patienten und zur Sicherung medizinischer Qualität in einem zunehmend kompetitiven globalen Umfeld.
Ein Zwischenruf von Prof. Dr. med. Dr. phil. Torsten Haferlach, Gründer und Geschäftsführer MLL Münchner Leukämielabor
In der Diskussionsrunde (oberes Bild) waren vertreten:
Juhani Knuuti (University of Turku, Turku University Hospital and Åbo Akademi University, Finland), Sylvia Thun (Charité, Direktor, Core-Unit eHealth und Interoperabilität), Thomas Göhl (Roche Diagnostics, Senior Global Market Development Manager für AI & Platform Economics), Torsten Haferlach (Gründer CEO Münchner Leukämielabor), Stefan Biesdorf (CEO Bayerische Cloud für Gesundheitsforschung), Moderator: Dominik Pförringer (Orthopäde und Trauma-Chirurg, TUM Klinikum rechts der Isar)


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