Kompetenz in mRNA wächst

Die Euphorie ist groß an der Saale. Nach dem Zuschlag für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation, feiert Wacker im Technologiepark Weinberg Campus das Richtfest für sein 100 Mio. Euro teures mRNA-Kompetenzzentrum. Baukräne prägen das Bild auf dem gesamten Campus.

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Worin liegen die Gründe für die derzeitige Euphorie? Die Situation mutet an wie eine zweite Gründerzeit. In den 1990er und 2000er Jahren wurden die infrastrukturellen Grundlagen für die Verbindung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft am Campus gelegt. Heute scheint die kritische Masse erreicht, welche Wachstum und Ansiedlungen vor allem im Life-Science-Bereich beflügelt.

Von den Anfängen …

Wenn man die Sache chronologisch betrachtet, dann war zuerst die Wissenschaft am Standort, namentlich das Institut für Chemie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Die Protein- und Protease-Forschung hat eine 70-jährige Geschichte in Halle (Saale). Den Anfangspunkt der thematischen Entwicklungslinie bildete der Chemiker Wolfgang Langenbeck mit der Heterogenkatalyse. Dies setzte sich mit der Entwicklung der Enzymologie fort.

Vom Chemischen über das Pharmazeutische Institut der Universität bis hin zur Biotechnologie in den 1980er Jahren eroberten die Naturwissenschaften Schritt für Schritt den Weinberg Campus. Außerdem entstanden in dieser Zeit zwei außeruniversitäre Forschungsinstitute, deren Nachfolger auch heute noch als international renommierte Institute der Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft sowie Leibniz-Gemeinschaft existieren.Insbesondere die Außenstelle Molekulare Wirkstoffbiochemie und Therapieentwicklung des Fraunhofer-Institutes für Zelltherapie und Immunologie IZI leistet heute wichtige Arbeit an der Schnittstelle zwischen Forschung und Unternehmen.

… bis zur Gegenwart

Seit 30 Jahren vollzieht sich am Weinberg Campus eine Entwicklung, die ihresgleichen sucht. Der Technologiepark ist heute ein bundesweit anerkannter Innovationsstandort für Life-Sciences, Biomedizin und Materialwissenschaften. Neben allen naturwissenschaftlichen Instituten der Universität, dem Universitätsklinikum und Instituten der vier großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind über 100 Technologieunternehmen angesiedelt, 300 Start-ups haben von hier aus den Weg in den Markt gefunden. Am Campus studieren, forschen und arbeiten insgesamt 15.000 Menschen in Zukunftsbranchen. Angelockt von der Forschungskompetenz haben sich in den vergangenen Jahren Konzerne wie Wacker, die japanische Denka-Group oder Biontech niedergelassen. Bis 2030 sind übergreifend Investitionen in Höhe von 500 Mio. Euro in Forschungs- und Produktionsinfrastruktur geplant.

Unternehmerischer Erfolg

Eine der ersten Gründungen am Campus war das biopharmazeutische Unternehmen Probiodrug (heute Vivoryon Therapeutics). Basierend auf Forschungen zu Proteasen wurde ab 1997 durch die Gründer Hans-Ulrich Demuth und Konrad Glund die Basistechnologie zur Behandlung von Diabetes Typ II mit DPP-4-Inhibitoren entwickelt. Die Wirkstoffgruppe der DPP-4-Inhibitoren ist heute eine der umsatzstärksten im Markt. Der Verkauf der Franchise im Jahre 2004 an OSI Pharmaceuticals (heute Astellas) und der erfolgreiche Euronext-Börsengang im Jahr 2014 bildeten die Grundlagen für das heutige Unternehmen Vivoryon Therapeutics und seine weiteren Entwicklungen im Bereich Neurodegeneration, Krebsbehandlung und Inflammation. Der Wirkstoff Varoglutamstat zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit befindet sich in der klinischen Testung.

Ebenfalls Ende der 1990er Jahre startete die Icon Genetics GmbH. Das von dem litauischen Pflanzenphysiologen und Genetiker Yuri Gleba zunächst in Princeton (USA) gegründete Unternehmen wurde 2015 von der japanischen Denka-Group übernommen. Die Herstellung von Biopharmazeutika auf Basis der eigenen pflanzenbasierten Entwicklungsplattform soll zukünftig mit einer neuen Produktionsstätte auf dem Campus intensiviert werden.

Konzerne übernehmen

Ausgangspunkt für die aktuell wachstumsstärksten Unternehmen am Weinberg Campus waren zwei Ausgründungen der Universität. Aus Scil Proteins wurde Navigo Proteins und mit Scil Proteins Production baute Wacker seine Biotech-Tochter am Standort Halle aus. Letztere erweitert gerade mit dem Zuschlag der Bundesregierung zur „Pandemiebereitschaft“ im Eiltempo ihre Produktionskapazitäten. Für den Ausbau zu einem sogenannten mRNA-Kompetenzzentrum gibt die Konzernmutter 100 Mio. Euro –  die größte Investition eines Unternehmens, die bisher am Weinberg Campus getätigt wurde. Im Falle einer neuen Pandemie sollen 80 Millionen Impfstoff-Dosen pro Jahr hergestellt werden.

Mit Navigo Proteins ist ein weiteres Unternehmen mit Wurzeln auf dem Campus auf Wachstumskurs. Die mittlerweile 65 Beschäftigten im Technologiepark konzentrieren sich zum einen auf die Entdeckung von proteinbasierten Wirkstoffen und entwickeln diese zu innovativen Krebstherapien im Umfeld der Nuklearmedizin. Dabei erkennen die Proteine mit hoher Präzision krebsartige Gewebe und Zellen, binden diese und entladen zielgerichtet eine therapeutische Wirkung. Im zweiten Geschäftsfeld werden Produkte zur vereinfachten Herstellung von Biopharmazeutika entwickelt.

Seit 2020 ist auch Biontech mit seiner Tochterfirma Biontech Delivery Technologies am Weinberg Campus präsent. Der Mainzer RNA-Entwickler erwarb dabei Kerntechnologien der 2011 in Halle gegründeten Lipocalyx und übernahm den Standort mit allen Mitarbeitern und Erfahrungen, welche substanziell in die Entwicklung des Corona-Impfstoffes von Biontech einflossen.  

Die Vernetzung der Branche

Um die mit dem Wachstum verbundenen Herausforderungen wie Fachkräftesicherung und Wissenstransfer zu meistern, wurde am Standort die Clusterinitiative Life Science Sachsen-Anhalt gegründet. Anfang 2023 fanden sich mehr als 20 Institute und Unternehmen zu dieser landesweiten Initiative zusammen. Neben Akteuren vom Campus sind unter anderem auch die Hochschule Anhalt, das Serumwerk Bernburg, Merz Pharma, Mibe und Salutas Pharma (Novartis) dabei. Beispiel für ein aktuelles Projekt mit RNA-Bezug ist der vom BMWK mit 6 Mio. Euro geförderte Forschungsverbund „ZielWirk“. Im Fokus stehen Hilfsstoffe, die die kurzlebige RNA stabilisieren und dafür sorgen, dass die Medikamente an der gewünschten Stelle im Körper wirken. Partner sind unter anderem zwei Cluster-Mitglieder vom Weinberg Campus, die damit die besondere Kompetenz der hiesigen Akteure in diesem Bereich unterstreichen.

Mehr Platz für Start-ups

Unterstützt durch den ersten branchenspezifischen Life-Science-Accelerator für Sachsen-Anhalt erhält auch die Start-up-Szene in Mitteldeutschland wichtige Impulse. Um im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe bestehen zu können, müssen alle Rahmenbedingungen stimmen.

Deshalb werden in den nächsten Jahren gemeinsam mit dem Land Sachsen-Anhalt 78 Mio. Euro in zwei neue Gebäude für Start-ups investiert. Ehrgeiziges Ziel ist es, dass sich 200 Start-ups und Wachstumsunternehmen verschiedener Branchen – unter anderem aus Biotechnologie, Pharma, Medizin-, Umwelttechnik, Chemie, Bioökonomie – ansiedeln. Rund 1.000 Hightech-Arbeitsplätze sollen bis 2040 im Technologiepark Weinberg Campus und in der Region entstehen. Die Baukräne auf dem Weinberg drehen sich weiter.

Der Beitrag ist dem Tech-Park-Spezial in |transkript 2/2023 entnommen.

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