Hypercholesterinämie: Gezieltes Screening
Durch prädiktives Screening von Risikopatienten für Familiäre Hypercholesterinämie lassen sich Herzinfarkte im frühen Alter vermeiden. LABORWELT sprach mit der Leiterin der VRONI-Studie, Dr. Veronika Sanin vom Herzzentrum München darüber, wann und für wen ein genetisches Screening sinnvoll ist.
LABORWELT. Frau Dr. Sanin, könnten Sie bitte das Design, Ziel und Resultate der Vroni-Studie beschreiben?
Sanin. Unter dem Motto „Herzinfarkt mit 35 ohne mich!“ bieten wir seit 2020 in Bayern ein Screening auf die Familiäre Hypercholesterinämie (FH) an. Die Mittel hierzu kommen aus dem bayerischen
Gesundheitsministerium im Rahmen des DigiMed-Programms. Bislang wurden mehr als 27.000 Kinder untersucht und 265 Kinder und deren Familien mit FH durch VRONI identifiziert. Es handelt sich bei der FH um die häufigste angeborene Stoffwechselerkrankung, die durch deutlich erhöhte LDL-Cholesterinwerte im Blut charakterisiert ist. In Deutschland gibt es ungefähr 300.000 Mutationsträger, wovon weniger als 5% identifiziert sind. Unbehandelt führt die Erkrankung zu vorzeitigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkten oder Schlaganfälle. Durch eine frühzeitige Diagnose und eine cholesterinsenkende Therapie kann das kardiovaskuläre Risiko Betroffener auf das Niveau der Allgemeinbevölkerung reduziert werden. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen (U9-J1) können Eltern ihre Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren kostenlos beim Kinder- und Jugendarzt auf erhöhte Cholesterinwerte testen lassen. In einem ersten Schritt wird über eine Kapillarblutabnahme das LDL-Cholesterin gemessen. Bei auffälligen Werten über der 95. Perzentile erfolgt eine molekulargenetische Untersuchung. Vom Studienteam am Deutschen Herzzentrum München wird ein Forschungsbericht erstellt und das Ergebnis mit den Therapieempfehlungen aus den Leitlinien an die behandelnden Kinder- und Jugendärzte geschickt. Für betroffene Kinder beziehungsweise Familien besteht ein umfassendes Angebot zur Beratung und Unterstützung. Im zweiten Schritt geht es darum, weitere Angehörige im Rahmen eines Kaskadenscreenings zu identifizieren. Eltern und Verwandte werden über eine genetische Online-Beratung aufgeklärt und haben die Möglichkeit, über eine Speicheluntersuchung ebenfalls eine genetische Untersuchung durchführen zu lassen. Primäres Ziel von VRONI ist es, durch frühzeitige Identifikation von Betroffenen entsprechende Behandlungsmaßnahmen einzuleiten, um schwere Folgeerkrankungen zu verhindern.
LABORWELT. Eine „Expansions“-Studie nach gleichem Muster findet auch in Norddeutschland statt. Wie kam es dazu und was waren – auch datenschutzrechtlich – Hürden beim Transfer der Studie?.
Sanin. Angesichts der bisherigen Erfolge von VRONI konnten wir dank der Fördergeber Dr. Rolf M. Schwiete Stiftung, Deutsche Herzstiftung e.V., Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e.V., ein weiteres Studienzentrum in Niedersachsen (Kinder- und Jugendkrankenhaus „Auf der Bult“ in Hannover) eröffnen. Damit können seit Anfang des Jahres auch Kinder aus Hamburg, Bremen und Niedersachsen auf FH getestet werden. Die datenschutzrechtlichen beziehungsweise logistischen Hürden hielten sich in Grenzen, da wir bereits in VRONI-Bayern ein gut strukturiertes Datenschutz- und Logistikonzept erarbeitet hatten, welches analog auch für VRONI im Norden übernommen werden konnte.
LABORWELT. Welchen Nutzen und welche neuen Handlungsoptionen sehen Sie angesichts der bisherigen Ergebnisse beider Studien im Lichte eines potentiellen bundesweiten Roll-outs? Und was würde dieser kosten?
Sanin. Wenn man bedenkt, dass die Erkrankung vier von tausend Personen betrifft, ist es unverständlich, dass es bislang noch kein Screening gibt. Dabei kann die Diagnose FH durch Messung des LDL-Cholesterinspiegels im Blut – kombiniert mit gezielten genetischen Analysen – einfach und sicher gestellt werden. VRONI zeigt, wie ein entsprechendes Früherkennungsprogramm auch praktisch erfolgreich umgesetzt werden kann. Mit der Studie werden wichtige Daten zur epidemiologischen Verbreitung von FH-Patienten und zum allgemeinen Therapie- und Versorgungsstatus erfasst. Darüber hinaus werden auch viele wissenschaftliche Fragestellungen adressiert. Primär geht darum, ein multidisziplinäres Netzwerk aufzubauen, um FH-Patienten frühzeitig zu identifizieren und erfolgreich zu behandeln. FH-Detektion ist gesundheitsökonomisch kostensparend; mehrere Analysen zur Kosteneffektivität der FH-Diagnostik und -Betreuung zeigen ihren positiven Wert. Eine laborchemische LDL-Cholesterinspiegel-Bestimmung kostet weniger als 5 Euro und auch die molekulargenetische Diagnostik kann zunehmend kostengünstiger angeboten werden. Zudem liegen die Jahrestherapiekosten für eine cholesterinsenkende Therapie mittels Statinen zwischen 50 und 80 Euro. Ich denke diese Kosten stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten (medizinische Kosten, hohe Folgekosten durch Erwerbsminderung, geringere Sozialabgaben, höhere Belastung des Sozial- und Rentensystems etc), die vergleichsweise ein Herzinfarkt verursacht.
LABORWELT. Wie haben Sie es datenschutzrechtlich ermöglicht, dass auch potentiell Verwandte mit erhöhtem Risiko für eine familiäre Hypercholesterinämie gescreent werden können?
Sanin. VRONI hat dank professioneller Unterstützung ein sehr gut durchdachtes Datenschutzkonzept. Die Eltern von betroffenen Kindern werden mit einem Informationsschreiben über die FH und die Möglichkeit beziehungsweise Notwendigkeit eines Kaskadenscreenings informiert und können sich aktiv im Vroni-Studienzentrum melden. Eltern und Verwandten wird dort eine Online-Beratung über die genetische Erkrankung auf einer eigens dafür zertifizierten Plattform angeboten. Experten des Deutschen Herzzentrums erklären die Erkrankung sowie diagnostische und therapeutische Optionen. Über eine postalisch zugeschickte Speichelprobe kann die Diagnose ebenfalls molekular-genetisch gestellt oder verworfen werden. Durch dieses digitale Angebot können das Angebot Familien in Bayern beziehungsweise in ganz Deutschland nutzen.
LABORWELT. Welche genetisch mitbedingten kardiovaskulären Krankheiten wären des Weiteren für derartige Kaskadenscreenings geeignet und wie würde ein Screening die medizinischen Interventions- und Präventionsoptionen verbessern helfen?
Sanin. Die FH nimmt aufgrund ihrer hohen Prävalenz (1:250) und dem wissenschaftlich nachgewiesenen kausalen Zusammenhang zwischen hohen LDL-C und dem Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen eine Schlüsselrolle ein. Andere genetisch bedingte kardiovaskuläre Erkrankungen (etwa Marfan-Syndrom, Hypertrophe Kardiomyopathie etc.) treten deutlich seltener auf oder haben keine gezielte Therapie zur Folge. Die Lp(a)-Lipoproteinämie ist zwar häufiger, hat aber für Kinder derzeit noch keine unmittelbare therapeutische Konsequenz. Für die Altersgruppe wäre es noch interessant, ein Screening für das Risiko einen Typ 1 Diabetes mellitus zu entwickeln. Dabei geht es allerdings weniger um die genetische Disposition, sondern um Autoantikörper beispielsweise gegen Betazellen im Pankreas.
LABORWELT. Was wäre die medizinische Wunschvorstellung hinsichtlich der Weiterentwicklung von Prädiktions- und Präventionsprogrammen für Menschen mit kardiovaskulären Erkrankungen? Wo wollen Sie in den nächsten fünf Jahren hin?
Sanin. Ganz klar ein FH-Screening für alle Kinder im Rahmen der Regelversorgung. Ich bin sehr dankbar, dass auch auf politischer Ebene die Notwendigkeit von frühen Präventionsmaßnahmen erkannt und das FH-Screening als ein geplantes Handlungsfeld im neuen „Gesundes-Herz-Gesetz“ definiert wurde. Jetzt geht es darum, das politische Momentum zu verstärken. Das heißt, wir müssen allgemeines Bewusstsein schaffen und medizinische Kollegen für das Thema sensibilisieren. Wir müssen Netzwerke bilden und die leitliniengemäße Therapie umsetzen. Die Kollegen der Kinderkardiologie können dabei eine wichtige Brücke bilden. Dieser Prozess geht nicht von heute auf morgen aber wir sind auf dem richtigen Weg. Wir müssen die Chance nutzen, um durch gezielte Vorsorgemaßnahmen die Herzgesundheit in Deutschland langfristig und nachhaltig zu verbessern.