Krankenkasse muss Zelltherapie zahlen
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat entschieden: Eine unheilbar an einem Tumor erkrankte Person kann nach einer gescheiterten Chemotherapie (Erstlinientherapie) einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine neuartige wissenschaftlich fundierte Alternativtherapie (hier: dendritische Zelltherapie) haben. Sie muss sich nicht auf eine Zweitlinientherapie mit prognostisch noch geringerer Wirksamkeit verweisen lassen, sondern kann unmittelbar die Übernahme der Kosten der neuartigen Therapie verlangen, wenn deren Einsatz wissenschaftlich ebenso begründbar ist.
In dem Fall, der bereits im Juni vergangenen Jahres entschieden wurde, aber nun erst durch Diskussionen in medizinjuristischen Kreisen größere Beachtung findet, ging es um die Klage der Ehefrau eines verstorbenen Krebspatienten gegen dessen private Krankenversicherung. (Siehe auch aktuelles Update ganz unten)
Beim Ehemann der Klägerin war ein nicht operabler Tumor der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert worden, der Anfang 2018 zunächst mit einer Chemotherapie behandelt worden war. Auch nach dieser Behandlung wurde der Tumor als nicht operabel eingestuft. Es erfolgte eine Behandlung im Rahmen einer kombinierten Immuntherapie mit dendritischen Zellen. Die beklagte Privatkrankenkasse lehnte ihre Erstattungspflicht hierfür ab, übernahm aber freiwillig die Hälfte der Kosten.
Das Landgericht Wiesbaden hatte die Beklagte auch zur Zahlung der nicht übernommenen Kosten verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung vor dem OLG blieb ohne Erfolg. Das Urteil bezieht sich dabei auf eine Vertragsklausel zur Kostenerstattung der Versicherung. Neben den Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind "leistet [der Versicherer] darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen …". Die dendritische Zelltherapie stelle nach Auffassung des Gerichts eine Heilbehandlung im Sinne der Krankheitskostenbedingungen der privaten Krankenversicherungen dar. Die Behandlung mit dendritischen Zellen habe die Symptome der Krebserkrankung lindern und den Gesundheitszustand stabilisieren sowie einer Verschlimmerung entgegenwirken sollen. Die spezifische Wirkweise der dendritischen Zellen sei auf die Zerstörung von Tumorzellen ausgerichtet, wie der gerichtliche Sachverständige bestätigt habe.
Die in ihrer argumentativen Herleitung lesenswerte Begründung des OLG öffnet eine Tür zur Erstattung an der starren Hierarchie der Leitliniennomenklatur vorbei, bietet aber auch weiterhin Platz für Diskussion über den Passus, was eine "verfügbare Therapie" ist: "Bei einer lebenszerstörenden, unheilbaren Krankheit kann nicht mehr darauf abgestellt werden, ob sich die gewünschte Behandlung zur Erreichung des vorgegebenen Behandlungszieles tatsächlich eignet", so das hessische OLG. Die objektive Vertretbarkeit der Behandlung sei vielmehr bereits dann zu bejahen, wenn sie nach medizinischen Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme wahrscheinlich auf eine Verhinderung der Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest auf ihre Verlangsamung hinwirke. Ausreichend sei ein nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbarer Ansatz, der die prognostizierte Wirkweise auf das angestrebte Behandlungsziel erklären könne. Eine hinreichende wissenschaftliche Evidenz für die Effektivität sei nicht erforderlich. Der Sachverständige habe hier einen solchen nachvollziehbaren Ansatz bestätigt, der – jedenfalls bei bestimmten Krebsarten – mittlerweile auch Erfolge zeige.
Da eine schulmedizinische Erstlinientherapie versucht worden sei, die keinen Behandlungserfolg erbracht habe, habe unmittelbar auf den "neuartige(n) wissenschaftlich fundierte(n) Ansatz der Alternativtherapie zurückgegriffen" werden dürfen. Es sei nicht zunächst noch der prognostisch zweifelhafte Erfolg einer Zweitlinientherapie abzuwarten, betont das OLG. Die in den Versicherungsbedingungen aufgegriffene Formulierung, ob ein bestimmtes schulmedizinisches Arzneimittel "zur Verfügung" stehe, dürfe der Versicherungsnehmer vielmehr so auffassen, dass er sich nicht alleine auf nahezu aussichtslose schulmedizinische Methoden verweisen lassen müsse.
Tatsächlich hat sich nach der Zelltherapie eine Verbesserung des Gesundheitszustandes des Erkrankten eingestellt, so dass das Ehepaar noch zwei Reisen unternehmen konnte. Dann meldete sich der Tumor mit neuen Metastasen zurück, womit sich die Behandlungsoptionen nurmehr auf palliative Begleitung einschränkten. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, obwohl das Gericht eine Revision nicht zugelassen hat. Mit einer Nichtzulassungsbeschwerde könnte die beklagte Privatversicherung jedoch noch die Zulassung der Revision beim Bundesgerichtshof begehren. Darüber liegen derzeit noch keine Informationen vor.
Quelle: OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 29.06.2022 – 7 U 140/20
Update vom 10.1.23: Laut Aussage des hessischen Oberlandesgerichts ist die Frist zur Eingabe von Rechtsmitteln abgelaufen und damit kann die Entscheidung als rechtskräfitg angesehen werden.