Künstliche Intelligenz in der DNA von Merck
Die Merck KGaA gab Einblicke in ihre proprietären Ansätze für datengetriebene neue Produkte und den umfassenden Einsatz von KI in allen drei Unternehmensbereichen: Healthcare, Life Science und Electronics.
Nur kurz gab CEO Belén Garjio der spürbaren Unsicherheit über ‚Hype or Hope‘ in Sachen Künstliche Intelligenz Raum, um dann die KI-Strategie der Merck KGaA in Darmstadt vorzustellen. Dabei ließ sie keinen Zweifel an ihrer Meinung: „KI ist kein Hype. Diese transformative Kraft verändert unser Leben und unsere Arbeit. KI beschleunigt unsere Forschung und Entwicklung, schon heute“, so die Vorsitzende der Geschäftsleitung vergangene Woche in Darmstadt. Doch nicht nur in der Forschung werde KI eingesetzt, Merck habe sich bereits vor Jahren auf den Weg gemacht, ein datengetriebenes Unternehmen zu werden.
Dabei gewährte die einzige Frau an der Spitze eines DAX-Unternehmens auch persönliche Einblicke. Sie selbst werde täglich von ihren Mitarbeitern im Umgang mit KI-Tools trainiert, das passiere nicht von alleine und die Entwicklung sei zudem so schnell, dass man ein Team brauche, um mithalten zu können. Doch als „Neuland“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2013 (!) das Internet bezeichnete, will Merck das Thema Künstliche Intelligenz keinesfalls einstufen. Schon Jahre vor dem großen Hype, der durch die massenhafte Verbreitung einiger Tools wie ChatGPT, Dall-e oder Midjourney ausgelöst wurde, hatte sich Merck mit Datenanalyse-Unternehmen zusammengetan, um mehr aus dem digitalen Wissen herauszuholen.
Dahinter steckte laut Garijo die Erkenntnis, dass nicht immer die Pioniere einer revolutionären Technologie die stärkste Marktposition erobern, sondern diejenigen, denen es gelingt, eine Vision der technischen Möglichkeiten in Geschäftsmodelle umzusetzen. Es komme also nicht darauf an, der Erste zu sein, sondern die Technologie richtig zu nutzen. Merck habe sich deshalb schon früh mit dem US-amerikanischen Unternehmen Palantir zusammengetan, dessen umfassende Datensammlungen und Analysen verschiedenster, auch hochprivater Datenquellen vor einigen Jahren für viel Diskussionsstoff gesorgt hätten. Man muss mit Daten umgehen können, wenn man datengetrieben zu besseren Erkenntnissen kommen will, lautet das Credo aus Darmstadt.
Merck hat viel der eingesetzten KI mit Expertenhilfe und der langen Beschäftigung mit Machine Learning in der Chemieinformatik im eigenen Haus entwickelt. Es wurde aber auch mit Partnerfirmen und den Erfindern von ChatGPT interagiert. Deren Lizenzmodell war aber noch nicht ausgereift, Datenschutz- und einige Urheberrechtsfragen nicht ausreichend geklärt. So bastelte sich Merck selbst ein firmeneigenes KI-Fragezentrum namens „myGPTsuite“, das mit vier Millionen Anfragen der Mitarbeiter pro Jahr (Tendenz steigend) gut angenommen wird. Doch nicht nur dokumentarische oder administrative Arbeiten sollen erleichtert werden. KI ist der Kern der Forscherseele von Merck (siehe auch |transkript 3/2024, Interview mit Daniel Kuhn von Merck). Wesentliche Schritte der Discovery, die Hit-to-Lead-Generierung, die Designoptimierung und die komplexen Abgleiche eines theoretischen neuen Wirkstoffs auf Synthetisierbarkeit, Löslichkeit, Verhalten im angestrebten Gewebekontext, pharmakodynamische Parameter und die Frage der Spezifität – bei all diesen Fragen hilft KI schon heute, die richtige Auswahl zu treffen und damit den großen Raum der strukturellen Möglichkeiten auf ein besser beherrschbares Minimum zu reduzieren, das dann in der chemischen Synthese und damit unter den Bedingungen des Labors auf die Realität trifft. Von Tausenden Molekülvarianten komme man so auf wenige Hundert, was den Auswahlprozess schlicht beschleunige und geldwerte Zeit für den weiteren Entwicklungsweg eines neuen therapeutischen Wirkstoffs spare, so Merck.
Ein wichtiger Akteur bei Merck ist der gebürtige Ägypter Walid Mehanna, der vor vier Jahren zum Chief Data & AI Officer ernannt wurde. Zuvor war er in der baden-württembergischen Automobilindustrie tätig. Er beschreibt den Fehler, den diese Branche gemacht hat. Die Autobauer hätten es schlichtweg versäumt, die Software zum Gehirn und Kern ihrer Fahrzeuge zu machen und dabei die Zügel in der Hand zu behalten. Viel zu viele elektronische Einzelkomponenten, die nicht gut miteinander kommunizieren können, hätten zu dem Rückstand auf Tesla geführt, der mit reiner Maschinenbaukunst nicht zu erklären sei. Diesen Fehler will Merck nicht wiederholen. Um KI zum bestimmenden Element im Unternehmen zu machen, betont Mehanna, „muss eine echte Datenkultur das Unternehmen durchdringen. Es muss eine echte Bewegung durch das Unternehmen gehen, und genau das ist bei Merck in den letzten Jahren passiert.“
Für ihn und Merck gehe es nicht darum, Weltmarktführer bei der Entwicklung der neuesten KI-Tools zu werden, sondern auf Augenhöhe zu spielen, um die technologischen Entwicklungen anderer zu implementieren, die die eigene Wertschöpfungskette am besten voranbringen. KI werde dabei auf absehbare Zeit ein „Co-Pilot“, ein Helfer sein. Dabei sei es sogar wichtig, dass die KI-Entwickler unabhängig von den konkreten Wünschen und Vorstellungen einzelner Branchen arbeiten. Denn wenn diese Tüftler alle Wünsche von vornherein erfüllen wollten, wäre ihre Kreativität stark eingeschränkt. Nach Kundenwünschen und den damaligen Vorstellungen entwickelt, hätte das iPhone vielleicht auch ein CD-Laufwerk bekommen, meint Mehanna schmunzelnd. „Wir selbst müssen dann immer in der Lage sein, diese KI-Tools mit unserer eigenen Kreativität und Vision zu gestalten und in unsere Geschäftsmodelle zu integrieren, nur dann wird das Unternehmen in seinem Industriebereich erfolgreich sein.“
Merck sieht sich in allen Geschäftseinheiten dafür gut aufgestellt. Mit dem KI-unterstützten Kit Catalexis zur Auswahl der geeigneten Katalysatoren für chemische Synthesepfade haben die Darmstädter bereits gezeigt, dass sie nicht nur hausintern KI nutzen, sondern daraus auch neue Produkte generieren können.